Hallo Leute, unsere diesjährige Sommertour führte uns mal nicht auf wilde Wasser, wie letztens Euphrat, Shchugor, Torne oder Lainio, sondern auf zwei ganz bequeme Flachlandflüsse, auf den Sejm und die Desna in der Ostukraine. Beide Flüsse entspringen im Südwesten Russlands und queren die Grenze zur Ukraine im Nordosten des Landes. Der Sejm ist mit einer Länge von 780km größter Nebenfluss der Desna, die Desna wiederum ist 1180km lang und mündet als sein längster Nebenfluss bei Kiew in den Dnjeper. Der von uns befahrene Abschnitt liegt in etwa auf der geographischen Breite von Duisburg oder Leipzig, und 15 Längengrade weiter im Osten, also 1 - 1½ Stunde vor uns hier in Deutschland. In der Ukraine waren wir schon öfter mal, das war jetzt nicht mehr so das große Abenteuer, aber exotisch bleibt das Land allemal. Und das noch, Ost-Ukraine: natürlich sind wir nicht in die umkämpften Gebiete gefahren, diese liegen ~400km weiter südöstlich.
Start war am 24. Juli. Nach 3 Tagen Autofahrt mit einigen Highlights (1. Nacht 2 Dachse wenige Schritte entfernt in Polen, 2. Nacht festgefahren am Südrand der Prypjatsümpfe (da hatte schon die Wehrmacht Probleme), 3. Übernachtung in der Schwarzerde, quasi mitten in der Erntekampagne) kamen wir an der geplanten Einsatzstelle in Klepaly (Клепали) an. Der Bahnhof, wichtig für den Tag des Auto-Nachholens, ist nur 3km vom Fluss entfernt und hat eine Direktverbindung nach Kiew. Leider hatte ich beim Blick auf die Google-Satellitenbilder übersehen, dass der Ort 40m oberhalb des Flusses liegt, und die unbefestigten Kuhpfade runter zum Fluss nicht befahrbar sind. Ganz unten wäre man außerdem in knöcheltiefem Schlamm steckengeblieben. Wir kamen jedenfalls nicht einmal zu Fuß direkt an den Fluss. Die Inspektion einer weiteren möglichen Einsatzstelle in Tschumakowe (Чумакове) ergab ebenfalls sehr lehmige Ufer. Andrea wollte den Dreck nicht, und so starteten wir 110km weiter stromab nördlich der Stadt Konotop am Strom-Kilometer 692, leider bereits unterhalb des Landschaftsparkes "Sejm" (Регіональний ландшафтний парк «Сеймський») mit seinen hübschen Auen, aber hier bereits mit schönen Sandbänken und ohne Lehmschlamm.
Während Andrea am Aufbauplatz noch das Gepäck sortiert, bringe ich das Auto zurück nach Konotop auf einen bewachten Parkplatz (6.84€ für 12 Tage, Map). Dann kaufe ich noch eine ukrainische SIM-Karte fürs Smartphone (3€/1GB Internet) und fahre mit dem Marschrutka bis zum Aufbauplatz zurück (0.34€). Andrea unterhält sich derweil mit 4 Israelis (mit ukrainischen Wurzeln), die mit 2 Faltbooten hier ihren Sommerurlaub verbringen.
Um 5 Uhr EET legen wir ab. Der Fluss fließt sehr ruhig. Das Wasser ist für einen Flachlandfluss dieser Länge, dessen Einzugsgebiet überwiegend durch Landwirtschaft geprägt ist, außerordentlich klar. Er mäandriert in feinsandiger Aue, die Ufer sehr naturnah, mit stetigem Wechsel zwischen Steilufern, die vom Fluss abgegraben werden, und Gleitufern, an denen der Sand wieder abgelagert wird und die eine ganz typische Vegetationsabfolge haben. Nach dem feinen flachen Sandstrand folgt ein Streifen mit Pestwurz, dahinter dann niedrige Weidenbüsche, und ein paar dutzend Meter dahinter dann ein höherer Weidenschungel. Dahinter folgen dann auch andere Baumarten.
Das Wetter ist sehr warm, hochsommerlich, fast bis ganz windstill, und lockt viele Familien und Jugendliche zum Baden an die Ufer, oder aufs Wasser zum Angeln. So ist jede potentielle Übernachtungsstelle bereits besetzt. Nach 6½km lächelt uns aber doch noch eine große freie Sandbank an und lädt ein zum Camp aufschlagen im weichen weißen Sand.
Wahrscheinlich ist diese Sandbank nicht mit SUV erreichbar und darum nur selten genutzt. Jedenfalls finden wir ohne großen Aufwand viel Feuerholz fürs Lagerfeuer. Das bleibt aber auch das einzige richtige Lagerfeuer auf dieser Tour. Den Rest haben wir uns mit dem Künzi beschieden, weil die Rastplätze in der Regel nach Feuerholz abgegrast sind. In ihrer Not versuchen die Ukrainer öfters auch frisch abgeschlagene grüne Äste zu verbrennen, oder müssen sich halt Holz mitbringen. Aber das kennt ihr ja (Stichwort "Baumarktholz" ). Für den Künzi war jedenfalls immer genug zu finden.
Am nächsten Tag lassen wir uns viel Zeit, gehen öfter Baden im sehr warmen Wasser (ich messe morgens 25°C, nachmittags 28°C Wassertemperatur, Luft um die 30°C), kochen Vormittags. Nach knapp 9km auf dem Fluss wird in der Nachmittagshitze zur fortan täglichen Siesta gestoppt. Hier koche ich regelmäßig eine Erbswurst und/oder eine Kanne Tee. In der Hitze muss man ausreichend trinken. Währenddessen zieht es sich zu, ab und zu ist in der Ferne Donnergrollen zu hören und es beginnt ein bisschen zu tröpfeln. Andrea will jetzt nicht mehr weiter, und so schlagen wir das nächste Lager auf. Letztlich ziehen die vereinzelten zarten Sommergewitter an uns vorbei, ebenso wie zwei größere Gruppen von Wanderpaddlern in ukrainischen Neris-Faltbooten und einem RZ85 aus der DDR.
Ich habe (auch für diese Tour) keinen Plan, bis wohin wir insgesamt kommen sollten, also treibt uns nichts, wir müssen keine Kilometer schaffen. Das Auto steht am Startpunkt, wurde also nicht vorgefahren zu einem geplanten Endpunkt, den man dann ja auch unbedingt erreichen müsste. Letztlich könnte man immer irgendwo die Tour beenden, ein paar Kilometer bis ins nächste Dorf laufen und von dort zum Auto zurück kommen. Aber natürlich gibt es Stellen, an denen das 'zum Auto zurückkommen' besonders einfach wäre. Das sind hier die Orte mit Bahnanschluss. Davon gibt es einen 113 Fluss-km ab Startpunkt in Makoschine, den zweiten in der Großstadt Tschernigow 248 Fluss-km ab Startpunkt, und letztlich Kiew 460km ab Startpunkt. Ok, Kiew ist unrealistisch, eher was für Sportler, aber Makoschine und auch Tschernigow sind für uns machbar. Also mal sehen, bis wohin es uns so absolut stressfrei treiben wird.
Die nächsten 10 Tage paddeln wir zwischen 17 und 30km/d, im Mittel der gesamten 12 Tage auf dem Wasser 22km/d. Der flotte Kopfrechner erkennt jetzt sofort, dass wir es bis Tschernigow schaffen, insgesamt lt. GPS 266km auf dem Wasser (reine Stromlinie 248km).
Das Wetter bleibt über den gesamten Urlaub konstant schön, so ein typischer Osteuropa-Sommer, nur einmal unterbrochen von einer richtigen Gewitterfront. Auch hier legen wir zur Mittagsrast an. Als die Gewitter immer näher rücken, bauen wir das Zelt auf. Tatsächlich beginnt es ordentlich zu regnen. 50m nebenan sitzen 3 Ukrainer am Ufer, picknicken und lassen sich vom Regen nicht stören. Die zwei Damen (und der Herr) feiern ... und beginnen zu singen, und zwar so richtig schöne ukrainische und russische Volkslieder, so wie man sich die alten Zeiten vorzustellen hat. Das will ich mir unbedingt näher anschauen und anhören, und so gehe ich sie besuchen. Ich werde sofort herzlich in ihre Runde eingeladen. Natürlich bestehen sie darauf, dass ich umgehend Andrea aus dem Zelt hinzuhole. Das ist mir auch lieb so, denn ich selber spreche nur minimal russisch, und Andrea übernimmt ab jetzt die Konversation. Es wird ein sehr netter Nachmittag, bei Brot und Speck und Wodka und allem, was der ukrainische Hausgarten so her gibt, und die jetzt 3 Damen können sogar im Trio russische Lieder singen, immer aus voller Kehle und sehr klangvoll. Als der Regen stärker wird, gehen die Damen baden (im Wasser ist es zZ wärmer als draußen), singen weiter aus voller Kehle, und machen ihre Späßchen mit Purzelbäumen ua. Die beiden Rusalkas sind übrigens in unserem Alter, beide kräftig gebaut, agil und topfit. Ringsherum blitzt und donnert es und der Starkregen pladdert aufs Wasser. Irgendwie alles surreal.
Die Begegnungen mit den Einheimischen sind alle ähnlich nett und immer von viel Neugierde uns gegenüber und der Verwunderung darüber geprägt, wie es uns einfällt, ausgerechnet in ihrem Land Urlaub zu machen. Als wir vom Sejm auf die Desna kommen, sehen wir einen Fischer in einem der hier typischen, immer gleich gebauten, sehr kleinen traditionellen Holzboote seine Reusen inspizieren. Das schauen wir uns näher an. Das Boot treibt und steuert er mit einem grobgeschnitzten Stechpaddel mit recht großem Paddelblatt, und zwar meist einarmig, damit er mit der anderen Hand zur Reuse greifen kann. Die Boote sind extrem schmal und kipplig, und es bedarf ziemlicher Geschicklichkeit, damit nicht zu kentern.
4 Plötzen und ein noch relativ kleiner Wels von ~3kg sind seine morgendliche Ausbeute. Wir fragen nach einer Einkaufsmöglichkeit im nächsten Dorf. Daraufhin führt er uns zu seinem Strand, spült sein Boot im Fluss, verstaut es an Land, schenkt uns die 4 Plötzen, und führt Andrea 1km zum Laden und zurück. Ich putze derweil die Plötzen. Natürlich weiß er, dass es in dem Laden nicht alles geben wird, was Andrea einkaufen möchte, insbesondere kein Gemüse, weil das der Ukrainer sich aus dem eigenen Garten holt und gewöhnlich nicht im Laden kauft. Auf dem Hinweg kommen sie an seinem Ferienhaus vorbei, wo er seiner Frau bescheid gibt, Tomaten und Gurken zu ernten. Auf dem Rückweg drückt er Andrea das Gemüse in die Hand, dazu noch 3 selbstgemachte Trockenfische und ein Glas eingelegte Gurken. Wassili ist im übrigen nur Hobbyfischer. Im sonstigen Leben ist er Unternehmer mit ziemlichem Groll auf die korrupte Politikerkaste in seinem Land, die es zuverlässig verhindert, das die Ukraine einen ebenso schnellen Weg nach oben einschlagen kann wie zB Polen, oder wenigstens so solide wie Weißrussland. Das kam uns übrigens mehrfach unabhängig zu Ohren, wie Weißrussland gelobt wird für seine Ordnung und Sauberkeit, seine funktionierende Wirtschaft, den fähigen Führer Lukaschenko, und dass der Ukrainer eher den weißrussischen Waren vertraut als den ukrainischen, weil qualitativ besser. Das alles hatte ich vorher so noch nie gehört, steigert aber meine Neugierde auf das Land. Flüsse wie Pripjat oder sein Nebenfluss Stwiga stehen bereits seit längerem auf meiner Liste.
Zurück auf die Desna. Am zweiten Tag auf der Desna nähert sich von hinten eine ukrainische Faltboottruppe, schon von 1 km Entfernung an der großen Nationalflagge erkennbar. Wir setzen nun ebenfalls flugs unseren deutschen Stander und als sie uns erreichen, werden wir auf deutsch begrüßt. Es handelt sich um 2 3er-Faltboote, besetzt mit 6 Lehrer-Kollegen in unserem Alter, welche gemeinsam einen Teil der Ferien verbringen. Wir könnten uns gut weiter unterhalten, aber zu ihrem und unserem Bedauern endet ihre Sejm- und Desna-Tour bereits wenige hundert Meter stromab.
Einziges zu umtragendes Hindernis auf der gesamten Flusstour ist eine Pontonbrücke bei Maksaky (Максаки). Es gibt keine einzige Lücke, das Wasser gurgelt unter den Pontons hindurch, aber am Rand kann man gut direkt an den Pontons anlegen.
Gegen Ende der Flussfahrt wird die Ostukraine dann doch noch so, wie ihr euch sie vorstellt. Eines Nachmittags kamen wir an einer lauten Freiluftparty vorbei. Gefeiert wurde "Открыта охота", und kurz darauf kam bei uns am Siesta-Rastplatz ein Schnellboot mit 3 tarnfleck-uniformierten Bewaffneten ans Ufer. Sie zogen freundlich grüßend an uns vorbei, und kurz darauf begann es in der Nähe wild zu ballern. Solche Schießereien hörten wir diesen Nachmittag und die folgenden Tage regelmäßig. Nun wurde uns auch klar, warum es in der Ukraine so wenig Wild gibt, warum die Wälder so still sind, warum die Enten so hohe Fluchtdistanzen haben (während es mir hier in Deutschland schon passiert ist, dass man das Paddel über dösenden Enten am Flussufer schwenken kann, flüchten sie in der Ukraine bereits bei mehreren hundert Metern Abstand). Und man sieht sie so selten. Die erste Ente habe ich erst am 7. Tag auf Sejm und Desna gesehen, später kamen noch vereinzelte Kormorane dazu. Selbst Reiher werden geschossen. Die Ukrainer erzählten uns, das Land sei total überjagt, seitdem die Jagd nach Ende der Sowjetzeit für jedermann freigegeben wurde. Es gibt kaum noch Hasen, Rebhühner, Enten. Zu Jagdsituation und Perspektiven hier ein interessanter Bericht. Zitat: "In einigen Gebieten des Landes ist die Wilderei vor allem des Schalenwildes so stark, dass die Wilddichte dort sehr gering bis katastrophal ist. Die Wilderei ist nicht nur zur Zeit sehr groß, sondern nimmt sogar in einigen Gebieten des Landes immer drastischer zu."
Am vorletzten Tag gelangen wir an die Mündung des Flusses Snow. Auch dieser Nebenfluss der Desna entspringt in Russland. Er ist 253 km lang und hat das sauberste Wasser hier in der Gegend, noch besser als das des Sejm. Er eignet sich ebenfalls für Wanderfahrten von ~1 Woche (Geheimtipp!). Wir fahren den Snow 3½km stromauf, weil wir in dem Dorf Brusyliv einen Laden vermuten. Leider hatte ich bei der Suche an Land keinen Erfolg. Es handelte sich hier um eine der in Osteuropa typischen Reichen-Ghettos. Große Grundstücke, oft hoch und blickdicht umzäunt, architektonisch oft seltsame Protzbauten, aber immer fette Karren vor der Tür. Das einzige, was es in 1½km Entfernung gab, war ein kleine Bar am Straßenrand. Außer trübem Wasser aus dem eigenen Brunnen (und einem kleinen Kaffee) gab es da nichts zu kaufen, nicht mal Snacks oder Bier. Naja, so kann es auch gehen.
Sonst sind wir beim Einkaufen erfolgreicher gewesen. Immer wieder interessant, solche Dorfläden nach Sowjetmanier zu sehen, innen oft ziemlich dunkel von einzelnen Neonröhren beleuchtet, keine Selbstbedienung, aber die Verkäuferin nett und willens, meine mit Händen und Füßen vorgebrachten Wünsche zu verstehen. Zucker wurde mir auch mal lose aus dem Zentnersack in mein mitgebrachtes 'пакет' (=Tüte, Verpackung) abgefüllt. Auch Mehl, Tee, und Süßigkeiten werden oft lose nach Gewicht verkauft.
Auf dem Rückweg zur Desna gehen wir selber noch mal in diesem herrlich sauberen Wasser Baden. Der Fluss Snow und seine Ufer sind übrigens voller Ausflügler, die den Samstag oder gleich das ganze Wochenende hier im Grünen verbringen. Die Sonne steht bereits tief, und so wollen wir unser Lager gleich an der Mündung des Snow aufschlagen, so dass wir diesen Abend und den nächsten Morgen wieder im sauberen Wasser baden können. Hier zelten bereits ein paar Gruppen Ukrainer. Wir fragen, ob wir uns dazustellen können, und werden freundlich in ihre Runde eingeladen. Abends gibt es Gegrilltes, Wodka, und nette Gespräche, mit einer jüngeren blonden Dame zT sogar auf englisch und deutsch. Sie absolviert gerade ein Praktikum an der deutschen Botschaft in Kiew. Morgens benutzen wir ihr Feuer zum Kaffeewasser kochen.
Nach 12 Tagen auf dem Wasser kommen wir am nächsten Tag am späten Nachmittag in Tschernigow (Чернігів) an. Google verrät mir, dass noch am Abend eine Direktverbindung nach Konotop existiert. Kurz vor 23 Uhr würde ich in Konotop ankommen, müsste zum bewachten Parkplatz laufen, darauf vertrauen, dass um diese Uhrzeit jemand anzutreffen ist, das Auto auslösen und auf den bekannt schlechten Regionalstraßen durch die stockdunkle Nacht nach Tschernigow zurück fahren. Eigentlich mach ich so etwas nicht, aber hier bot es sich irgendwie an, das Autorückholen gleich zu erledigen. Dafür hätten wir dann den ganzen nächsten Tag Zeit, um zB die Stadt Tschernigow gemeinsam zu erkunden. Ich lasse also Andrea mit dem ganzen Gepäck am Rande der Stadt in der Nähe eines bewachten Bootshafens alleine sitzen und fahre mit dem Marshrutki für 11 Cent einmal quer durch die Stadt zum imposanten Bahnhof, den im Übrigen ein deutscher Ingenieur Hans ..., ehem. Kriegsgefangener, 1950 konstruiert haben soll. Die Fahrkarte bekomme ich von einem Restexemplar sowjetischer Dienstleistungskultur verkauft. Ich sollte meinen Namen sagen, was ich tat. Da sie aber nicht recht wusste, wie sie den Namen schreiben sollte, kam der Befehl "Dokument, Passport". Ich reiche ihr meinen Ausweis rüber, der aber in lateinischer Schrift verfasst war. Das ging ja mal gar nicht. Ob ich nicht ein ukrainisches Dokument hätte, herrscht sie mich an. Nein, habe ich nicht. Naja, sie beruhigt sich wieder und stellte mir mein Ticket aus. 1.40€ kosten die 178km Fahrt im Schlafwagen des Schnellzugs Kiew-Moskau bis Konotop. Auf dem Ticket stand mein Name dann so: WONME MISNAEL (hier transkribiert, in kyrillischer Schrift sieht das dann aus wie mein Namenszug).
In Konotop angekommen strömt eine halbe Hundertschaft Grenzpolizei in den internationalen Zug. 1½km laufe ich durch die mitternächtliche Dunkelheit bis zum bewachten Parkplatz. Zum Glück ist er geöffnet, zwei Männer sitzen in der Rezeption. Sie haben mich noch nie gesehen, aber wissen sofort, welches Auto meins ist. Ich bezahle die offene Rechnung und mache mich von dannen. Auffällig war, dass der große Parkplatz jetzt in der Nacht proppenvoll war. Nachmittags, als ich das Auto vor Beginn der Bootstour hier abstellte, war er weitgehend leer. Das heißt also, dass die Bewohner der Stadt Konotop tatsächlich in ziemlichem Ausmaß ihren Privat-PKW nachts auf so einen bewachten Parkplatz stellen, und zwar nicht nur Luxuskarossen, sondern ganz normale 0815-Autos.
Die 167km Fahrt zurück durch die Dunkelheit bringt mich doch an meine Grenzen. Der Staßenzustand ist teilweise katastrophal, und an manchen Stellen wabert dichter Nebel über die Straße. Ich muss ein Päuschen einlegen, um längeren Sekundenschläfchen entgegenzuwirken. ¼3 komme ich in Tschernigow bei Andrea am Zelt an, alles gut. Sie erzählt mir noch, dass abends eine Familie, die nebenan gepicknickt hat und mit denen sie diese Zeit keinen weiteren Kontakt hatte, sich bei ihr verabschiedet hat und dabei nachgefragt, ob sie sie jetzt alleine lassen können. Sehr fürsorglich.
Am nächsten Tag schauen wir uns Tschernigow an. Sie ist eine der ältesten Städte der Kiewer Rus, wurde von den Wikingern, die das Reich vor über 1000 Jahren begründeten, groß gemacht (Film, Trailer). Auch heute kann man davon ausgehen, dass jeder blonde Iwan noch die Wikingergene in sich trägt.
Abends brechen wir in Richtung Kiew auf und übernachten ein letztes mal an der Desna (nahe Oster), genau da, wo wir nach unserer Russlandtour vor 2 Jahren ebenfalls übernachtet hatten (Bild).
Kiew kennen wir bereits vom letzten mal. Wegen des günstigen Umtauschkurses wollen wir mal sehen, was die hiesigen Outdoorläden so im Angebot haben. Ist fast wie bei uns, auch die Preise aller Importgüter sind auf unserem Niveau oder darüber. Nur bei ukrainischen Produkten findet man das ein oder andere Schnäppchen, wie zB diese Holzvergaser-Kocherserie hier. Zwischen den Läden, die uns übrigens immer von den Angestellten des gerade besuchten Ladens empfohlen werden, müssen wir quer durch die Stadt fahren. Die Metro, die tiefste der Welt mit ewig langen Rolltreppen, kostet 15 Cent pro Besuch. Wenn man einmal drin ist, kann man beliebig lange fahren inklusive Umsteigen. Der nächste Laden liegt in einem südöstlichen Vorort von Kiew. Hier gehen wir Mittagessen in der 'Pusata Chata', einem Schnellrestaurant im lokalen Stil, angelehnt an die sowjetischen Kantinen, aber mit vielfältigem und schmackhaftem Angebot der heimischen Küche. Der hohe Umsatz dort garantiert Frische, und die Preise sind (für uns) extrem günstig. Viele Ukrainer verbringen dort ihre Mittagspause. Später stellen wir fest, dass es sich bei der «Пузата Хата» um eine ganze Kette handelt, die in mehreren großen Städten der Ukraine aktiv ist, und alleine in Kiew 10 Standorte hat. Auf jeden Fall sehr zu empfehlen! Der letzte Laden, den wir aufsuchen, führt neben Bergsport- auch speziell Wassersportartikel, darunter auch Neris-Faltboote, die man hier sehr günstig erwerben könnte. Eine Liste der besuchten Läden findet ihr hier.
An Sehenswürdigkeiten besuchen wir nur das Nationale Historische Museum der Ukraine. Es steht genau da, wo die ältesten Teile Kiews gefunden wurden, da wo die Kiewer Rus gegründet wurde, wo die Waräger ihre Burg hatten, also nach Nowgorod der Ursprung des später riesigen Russischen Reiches, für mich ein ganz besonderer Ort. Im Museum gab es einen Raum mit Objekten, die die Waräger in der Ukraine hinterlassen hatten.
Nach Kiew kommt nur noch die Heimreise. An der Grenze UA - PL haben wir mal voll in die Sch.... gefasst. Wir kamen 17:46 am Ende der Schlange an. Die Schlange war 600m lang, eigentlich erst mal nichts besonders schlimmes. Aber dann passierte so gut wie gar nichts. Nur Leute, die ±200$ an schmierige Typen zahlten, ließ man vordrängeln. Natürlich machen die gemeinsame Sache mit den korrupten Grenzbeamten. Das nahm solche Ausmaße an, dass hinten an der Schlange lange Zeit überhaupt nichts vorwärts ging. Nach insgesamt 9 Stunden genervten Wartens gelangten wir an den Beginn des Ukrainischen Kontrollbereiches. Selbst für die Leute um uns in der Schlange, die das schon gewohnt waren, war das diesmal besonders lange. Dort dauerte die Kontrolle noch mal eine ½h, mit Drängeln von allen Seiten an den Schaltern für Passkontrolle und extra noch mal für die Zollkontroll-Stempelchen, und allem PiPaPo unzivilisierten Verhaltens. Einfach ekelhaft, wie die sich ihr Leben organisieren. Siehe auch hier. Dann mussten wir noch mal eine ½h Warten, bis wir an der polnischen Kontrolle waren, und ab dann ging es zügig: 3 Minuten Kontrolle, dann endlich freie Fahrt in die Nacht.
Am nächsten Tag haben wir uns noch das schöne polnische Städtchen Kazimierz Dolny an der Weichsel angeschaut, und einen Tag später waren wir endgültig wieder daheim.
Wer sich für ein paar wenige mehr Details interessiert, der kann in die Fotos schauen (326 Flickr-Bilder), dort in der richtigen Reihenfolge. Filmchen 16 Minuten hier.
Gruß Michael
Ukraine 2016 Analyse vom Historiker Daniele Ganser: Youtube (1:50h)
Vielen Dank für den wieder mal runden und interessanten Tourenbericht.
Nach dem ersten Foto vor dem Text lesen dachte ich: Das schreit nach „festfahren“, früher oder später. Das schöne ist, so etwas gehört dazu.
Seitdem ich Deine Tourenberichte über die ehemalige SU verfolge, denke ich oft darüber nach, dort wieder einmal einzureisen. Die Umsetzung einer Kanutour in der ehemaligen SU, ist für mich wahrscheinlicher als eine Kanutour über dem Teich (über den Teich fliegen; nicht paddeln) Zumal stellte ich schon des Öfteren fest, das von meinen katastrophalen Russisch doch mehr hängengeblieben ist
Mir kam kurz in den Sinn, besonders wegen der umständlichen Anreise (Grenzkontrollen...), ob ein Flug nach Kiew zum Bsp. für etwa 160 € und ein Mietwagen ab 2 € / Tag eine Überlegung wert wäre? (Preise nicht korrekt geprüft)
einfach nur Schön! Die Bilder vom täglichen Leben im Sommer am Wasser sind der Hammer. Begeistert bin ich davon dass Du auch Fische fängst. Der Bericht ist spannender purer Osten, Danke! PS. ist das ein neues Zelt?
So, bin zurück vom Wanderpaddeltreffen. Wie es sich für Anarchisten gehört, Entdeckungstour auf unbekannten Gewässern, Übernachtung irgendwo, als es dunkel wurde.
Zu euren Fragen:
Zitat von Donaumike im Beitrag #5Seitdem ich Deine Tourenberichte über die ehemalige SU verfolge, denke ich oft darüber nach, dort wieder einmal einzureisen. Die Umsetzung einer Kanutour in der ehemaligen SU, ist für mich wahrscheinlicher als eine Kanutour über dem Teich (über den Teich fliegen; nicht paddeln) Zumal stellte ich schon des Öfteren fest, das von meinen katastrophalen Russisch doch mehr hängengeblieben ist
Ich kann dir nur zuraten es mal zu versuchen. Ich empfinde im Osten viel mehr Abenteuergefühl als in Westeuropa, und wahrscheinlich auch in Nordamerika. Klein anfangen könnte man im Baltikum, und die volle Dosis Osteuropa bekommt man zZ am einfachsten in der Ukraine. Und wenn man eine Tour in nördlicher Taiga-Wildnis machen will, so würde ich zuerst Russland wählen. Alles viel günstiger und dazu noch abenteuerlicher. Was will man mehr? Die Trapper- und Indianer-Vergangenheit hatten die genau so wie in Nordamerika, ok, ohne die Massenvernichtung der indigenen Völker, aber ansonsten ganz ähnlich (wie ich in diesem tollen Reisebericht lesen konnte). Die Landschaft am Shchugor war grandios, die Tierwelt allerdings vielleicht nicht ganz so prall wie in Nordamerika (es wird in Russland mehr abgeschossen, die Bären sind scheuer, zumindest wenn man nicht ganz so weit in die Wildnis kommt wie diese beiden hier.
Zitat von Donaumike im Beitrag #5Mir kam kurz in den Sinn, besonders wegen der umständlichen Anreise (Grenzkontrollen...), ob ein Flug nach Kiew zum Bsp. für etwa 160 € und ein Mietwagen ab 2 € / Tag eine Überlegung wert wäre? (Preise nicht korrekt geprüft)
Das geht natürlich. Wobei ich auf den Mietwagen verzichten würde, und stattdessen mit Bus und Bahn weiterreisen würde. Du bist flexibler und natürlich ist es viel günstiger (Preisbeispiele siehe meinen Bericht oben). Und du lernst das Land erst richtig kennen.
Zitat von Troubadix im Beitrag #6Begeistert bin ich davon dass Du auch Fische fängst.
Leider muss ich dich enttäuschen. Ich hatte zwar eine Angel dabei, habe sie aber nie eingesetzt. Die Fische haben wir vom Fischer geschenkt bekommen, der sie aus seinen Reusen holte. Die vielen vielen Angler am Flussufer hatten zwar alle eine Engelsgeduld, die aber nie belohnt wurde, zumindest nicht als wir vorbeifuhren. Und da dachte ich, wenn diese langjährigen Profiangler schon nichts fangen, da werde ich Anfänger schon gar keine Chance haben. Der Fluss ist ziemlich überfischt. Nicht umsonst haben wir am Lainio in Nordschweden auch russische Angler getroffen, die dort im Gegensatz zu ihren Heimatgewässern alle paar Minuten Fische aus dem Wasser holten und darüber sehr froh waren.
Zitat von Troubadix im Beitrag #6PS. ist das ein neues Zelt?
Ja, das Zelt war neu. Kam gerade rechtzeitig einen Tag vor Abfahrt zu Hause an.
Moin Michael, meine Frau hat leider erst um 16 Uhr Schulschluss dann werde ich sie aber sofort darum bitten das zu übersetzen. Vermutlich ist das doch eher was Nettes auf deiner Heckscheibe mit den kleinen Schmetterlingen verziert man nichts Böses. LG Jürgen
Noch zur Auflösung des Rätsels: ja, es handelt sich bei der Aufschrift um den Annäherungsversuch eines notgeilen Ukrainers. Jürgen Troubadix und Donaumike waren so taktvoll, ihre Übersetzungen hier nicht direkt zu posten.
"Noch zur Auflösung des Rätsels: ja, es handelt sich bei der Aufschrift um den Annäherungsversuch eines notgeilen Ukrainers. Jürgen Troubadix und Donaumike waren so taktvoll, ihre Übersetzungen hier nicht direkt zu posten."
Och MENNO!!
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Im Leben ist es wie beim Paddeln: Wenn die großen Wellen kommen, immer in der Hüfte schön locker bleiben.
Zitat von Troubadix im Beitrag #14PS: die Anfangsmusik empfand ich als etwas "grausam", bin laut Aussage meiner Frau aber auch ein musikalischer Tiefflieger.
Ja ich muss sagen, ich hatte diesmal einige Schwierigkeiten, Musik zu finden, wie sie mir vorschwebte. Ich kann dich da ein Stück verstehen, so richtig gefällt sie mir auch nicht (sie brennt ein wenig im Ohr). Letztes Jahr lief das irgendwie besser, die orientalische Musik damals hat mir richtig gut gefallen. Ließ sich aber auch irgendwie leichter auffinden im Netz, ich weiß nicht warum.
Ich fand gerade den ersten Titel schön, so kam man, auch mit den Ohren, Land und Leuten näher. Mangels kyrillisch Kenntnissen konnte ich die Gruppe leider nicht im www suchen.
Zitat von Spartaner im Beitrag #16Ja ich muss sagen, ich hatte diesmal einige Schwierigkeiten, Musik zu finden, wie sie mir vorschwebte. Ich kann dich da ein Stück verstehen, so richtig gefällt sie mir auch nicht (sie brennt ein wenig im Ohr).
Es sind regelmäßig Töne dabei, die 'falsch klingen' (ich sage das bewußt sehr vorsichtig). Sowas landet 'bei uns' und 'heutzutage' auf keinem Tonträger mehr. Das wird notfalls im Mastermix glattgebügelt. Ob das nicht besser gekonnt oder gewollt ist oder schlichtweg Stilmittel ist - Wer weiß? Auf alle Fälle sagt das auch etwas über unsere Hörgewohnheiten aus...
Ich finde dieses Reisevideo sehr gelungen. Auch und gerade die Musik scheint mir sehr authentisch und für die Region passend (vielleicht liegt es auch ein wenig daran, dass ich vor sehr langer Zeit in einem kirchenslawischen Chor mitgesungen habe).
Danke Michael für deine Mühe und fürs Veröffentlichen!