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 TOURENBERICHTE
Spartaner Offline




Beiträge: 1.167

16.09.2017 13:37
Snow, Ostukraine im August 2017 Antworten

Ein Hallo an alle Wanderpaddler und Ostland-Interessierte,
letztes Jahr paddelten wir auf Sejm und Desna, und trafen am Ende der Tour in Chernigov eine Gruppe mit Faltbooten, welche gerade eine Tour auf dem Snow beendeten. Der Snow galt seitdem als Geheimtipp, den ich bereits im Bericht von der letzten Sommertour empfohlen hatte.
Der Snow (russ./ukr. Снов) ist ein kleiner, 300km langer Flachlandfluss, der in Russland entspringt, dann mehrfach zwischen UA und RUS wechselt und zuletzt 134km durch die Ukraine zur Desna fließt, in die sie 20km oh von Chernigov mündet.

Dieses Jahr sind wir nun einfach unserem Tipp gefolgt, und sind Ende Juli zum Snow aufgebrochen.

Durch Polen ging es schön über die durchweg guten Straßen. Am Grenzübergang von Polen in die Ukraine müssen wir diesmal bereits auf der Hinfahrt stundenlang warten (Foto). Die polnische Abfertigung dauerte inklusive Anstehen eine knappe ¾h, die ukrainische Abfertigung knappe 3h. So lange haben wir reinzu noch nie gestanden, aber zum Glück nicht ganz so lange wie die 9h auf der Rückfahrt letztes Jahr. 1½h fahren wir noch ins Land, um dann in der Dämmerung 900m rechts in die Pampa zu abzubiegen, wo wir einen geeigneten Schlafplatz finden.

Ein Highlight des dritten Reisetages ist das morgendliche Bad im nahegelegenen Somyne-See (озеро Сомине, Foto).
Es ist schwierig, an den See heranzukommen, denn ein bis zu 100m breiter Schilfgürtel umkränzt den See. An einer Stelle findet sich ein 130m langer, baufälliger Steg und bietet uns Zugang zum Wasser. Nach meinen bisherigen Erfahrungen dachte ich, die kleinen flachen Seen hier in der ukrainischen Agrarsteppe können regelmäßig nur hypertrophe, blaualgenbelastete Drecklöcher sein, in die man kaum freiwillig einsteigen würde. Aber hier werden wir sehr positiv überrascht. Das Wasser ist außerordentlich warm und klar, der Grund von Armleuchteralgen bedeckt. Hier baden wir gerne. Vorne am Wasser steht eine dicke Oma im Bikini und angelt kleine Fischchen, die sie als Snack für ihre Enkel trocknen will.

Am Abend des dritten Tages lagern wir bereits am Ufer der Desna. Der nächste Morgen begrüßt uns mit Sonnenschein und der in der Ost-Ukraine zu erwartenden Geräuschkulisse: Panzerfahrgedröhne, vereinzelter Kanonendonner und das Geratter von großkalibrigen Bordgeschützen. Es ist Montag und auf dem 5km entfernten Übungsgelände des Truppenübungsplatzes am gegenüberliegenden Ufer haben sie ihre Arbeit aufgenommen.

1½ Stunden später sind wir in Chernigov und versuchen dort, Busverbindungen zu unserer geplanten Einsatzstelle Gorsk zu erkunden (um am Ende der Tour das Auto zurückzuholen). Gorsk ist der höchstmögliche Punkt, auf dem man zZ eine Tour auf dem ukrainischen Snow beginnen kann, nahe dem Dreiländereck BY - UA - RUS. Im Busbahnhof wird uns gesagt, dass es nur einen einzigen Bus gegen 17 Uhr gäbe. Das sieht nicht gut aus. Ein Taxifahrer bietet mir alternativ die Fahrt für die 92km lange Strecke dorthin für 23€ an. Ein paar mehr Busse fahren immerhin in die Kleinstadt Horodnya, 60km in die richtige Richtung.
In Chernigov ergänzen wir außerdem letztmalig unsere Lebensmittelvorräte im modernen Supermarkt, und ich erstehe eine ukrainische SIM-Karte fürs Smartphone mit 20 GB LTE-Volumen für bescheidene 50 Hriwna = 1.67€.

So gerüstet machen wir uns auf zur Einsatzstelle. Eine Hürde erwarte ich noch: einen Блокпост - Blokpost kurz vor unserem Dorf. Das Ganze liegt nämlich bereits im Grenzgebiet zu Russland, und da ist mit den Ukrainern gerade nicht gut Kirschen essen. Ich hatte schon überlegt, auf Schleichwegen über ein paar südlich liegende Dörfer mich dem Dorf Gorsk zu nähern, das dann aber im Zuge der Abwägung katastrophaler Straßenzustand vs. Kontrolle verworfen.
Der erwartete Kontrollposten existiert tatsächlich, wir werden gestoppt, aber nach einem ausführlichen Interview können wir weiterfahren. Die letzten vier Kilometer bis ins Dorf Gorsk bestätigen alle tiefsitzenden Vorurteile bezüglich der Qualität ukrainischer Nebenstraßen: Dicht an dicht tiefe Schlaglöcher, die alle einzeln umrundet werden müssen.
Im Dorf suchen wir nun nach einer Möglichkeit, bis an den Fluss zu fahren. Die OpenStreetMap, die bisher ein relativ verlässlicher Begleiter war, hat hier deutliche Lücken. Aber auch diese Hürde ließ sich nehmen, und nach 250m schmaler Fahrspur durch dichten Wald kommen wir unten am Fluss auf einer sehr schönen, kurzrasigen Aufbauwiese mit Badestrand an. Natürlich ist uns klar, dass es sich hier um die dörfliche Badestelle handelt, und dass wir jederzeit mit Besuch rechnen müssen. Die Leute haben oben im Dorf in ihren einfachen Häusern natürlich kein Bad eingebaut, und so gehen Sie täglich zum Fluss, um sich und/oder ihre Wäsche zu waschen. Hier hat niemand etwas dagegen, wenn man mal an ihrer Badestelle zeltet oder ein Feuer entfacht. Eine Feuerstelle ist immer vorhanden, und nebenan gab es auch eine gezimmerte Sitzgruppe mit Tisch und Schutzdach. Wie erwartet, kommen abends zwei Frauen zum Baden nach Feierabend vorbei.

Nach dem Aufbau des Bootes drehe ich gleich mal eine 2.9km-Solo-Runde, fahre eine große 8 stromauf aus. Der Fluss verzweigt sich hier nämlich mehrfach, so dass man auf Nebenarmen stromauf, und auf dem Hauptstrom schön flott stromab fahren kann. Leider habe ich mein Smartphone mit der Karte und den Satellitenbildern nicht dabei, so dass die Tour doch eine gewisse Spannung bekommt. Was, wenn ich am unterstromigen Ende die Einfahrt in den Nebenstrom nicht erkennen kann, zB weil alles mit mannshohem Schilf zugewachsen ist? Ich weiter und weiter fahre, Kilometer, die ich dann wieder stromauf fahren müsste, sobald ich den Irrtum erkenne? Aber am Ende ist doch alles gut erkennbar, der Rückweg kein Problem.

Danach gehe ich im Dunklen noch einmal hoch ins Dorf, um Abfahrtszeiten von Bussen auszukundschaften. Die Dorfjugend flaniert auf der Hauptstraße und gibt mir bereitwillig Auskunft. Danach gibt es zwei Busse von Chernigov nach Gorsk, einer früh um 8:20 und ein zweiter um 15 Uhr. Diese fahren nicht direkt vom Busbahnhof in Chernigov ab, sondern sind Marschrutka, welche an einer genau bezeichneten Stelle auf dem Bahnhofsvorplatz halten, so eine Art informeller Nahverkehr. Dann erzählen sie noch etwas, dass der Bus nicht direkt nach Gorsk fährt, sondern zuerst einmal zum Grenzübergang Сеньківка, um dann zurück über Gorsk zu fahren.
Ich also ganz stolz zurückgelaufen, froh mit meinem begrenzten Russisch diese umfassenden Auskünfte bekommen zu haben, nachdem das in Chernigov so mager aussah.

Am nächsten Morgen stehe ich früh um 5 Uhr auf und setze das Auto ganz entgegen unserer Gewohnheit bereits zu Beginn der Tour an den Zielpunkt vor. Am Blokpost gibt es wieder die übliche Befragung. Der Posten will alles wissen, wieso habe ich keine Passagiere, wohin will ich fahren, warum, komme ich wieder zurück, wie komme ich wieder zurück, und so weiter.
Die Fahrt auf der Landstraße ist ein Erlebnis, immer wieder unterbrechen Nebelfelder die Sicht (Foto). In Chernigov fahre ich die erstbeste Avtostoyanka in Bahnhofsnähe an, die mich aber abweist, weil sie überfüllt ist. Zum Glück kennt das Garmin-Navi eine weitere Avtostoyanka in der Nähe. Nachdem ich 10 Tage Parken angezahlt habe (3.33€), gehe ich zum Busbahnhof. Auf dem Weg dorthin übrigens noch eine Avtostoyanka, die das Garmin nicht kennt, die aber noch günstiger gelegen hätte, nur wenige Meter vom Bahnhof entfernt.

Das Marshrutka soll nun pünktlich 8:20 Uhr abfahren. Ein bischen unruhig bin ich ja schon. Sind meine Infos alle richtig? Finde ich die Stelle, fährt der Bus wirklich? So finde ich mich kurz nach 8 an der besagten Stelle ein. Und ja, da steht er bereits. Aber es ist wohl schon zu spät. Der Kleinbus ist bereits voll besetzt, und einige Leute warten an der Tür in der Hoffnung, noch eingelassen zu werden. Ich frage ebenfalls nach, erhalte aber eine abschlägige Antwort von einem Typen, der den Eingangsbereich absperrt: Мест Нет! Kein Platz mehr! Oh je, das kann ja noch heiter werden. Dann kann ich den Fahrer ausfindig machen und frage ihn ebenfalls nach einem Platz im Bus. Er bedeutet mir, ich solle einfach warten. Nach fünf Minuten kommt der Fahrer zurück und selektiert die Passagiere in seinem Bus. Einige müssen aussteigen und werden, so glaube ich, auf ein anderes Marschrutka vertröstet. Das sind wohl diejenigen, die nur bis zum Zwischenziel Городня mitfahren wollen. So ist dann wieder Platz im Bus, und alle Leute, die noch mit mir warten, können einsteigen. Pfff, Glück gehabt. Mein kleines Abenteuer ÖPNV scheint gut auszugehen. Nun stelle man sich mal vor, man wäre zu zweit unterwegs und mit vollem Faltboot- und Reisegepäck.

Der Fahrpreis beträt 40UAH, 1.33€ für 92km Direktstrecke, <6% des Taxipreises, zahlbar direkt beim Fahrer und natürlich ohne Quittung. Während der Fahrt werden mehrmals Teile der Einnahmen von einem Helfer des Fahrers an Mittelsmänner weitergeleitet, die an Haltestellen warten.
Angekommen am Checkpoint (Блокпост) werde ich direkt im Bus wieder hochnotpeinlich befragt: wohin will ich, was will ich dort, wo ist die Frau, wo ist das Auto etc. Der Offizier kennt mich schon von gestern, will aber die ganze Geschichte noch mal ausführlich vorgetragen bekommen. Dann geht es endlich weiter - aber in die falsche Richtung (wie von der Dorfjugend vorgewarnt).
Der Kleinbus fährt zunächst einmal bis zum Grenzübergang am Dreiländereck BY-UA-RUS. Dort kann ich ein Blick auf das "Denkmal der Freundschaft - Drei Schwestern" werfen, das genau im Dreiländereck steht. 1975 wurden die drei 18m hohen Säulen errichtet. Vergangenheit.
Hier wird wieder wie bereits zuvor in Horodnja eine ¼h Pause gemacht, bevor es dann endgültig an mein Ziel geht. Gegen ½1 bin ich zurück in Gorsk. Am Ufer tummeln sich nicht nur eine Oma mit ihren 2 Enkeln (Foto), sondern auch ein Offizier (in zivil, kein Foto) aus dem nahegelegenen Grenzregiment, welcher sicherlich ein Auge auf uns werfen soll, also ob unsere Geschichte stimmt und ob wir uns auf dem Fluss am Ende in die richtige Richtung begeben. 10km in die Wildnis stromauf, und wir wären in Russland. Wir wollen aber ohnehin stromab fahren. Zur Tarnung wäscht er seine Klamotten und Schuhe im Fluss. Na gut, das kann jetzt auch eine der heutzutage beliebten Verschwörungstheorien sein, oder neudeutsch Fake-News.

Wir kochen uns noch einen großen Pott Kaffee und brechen um 3 Uhr auf (Foto). Mit mäßiger Strömung mäandriert der Fluss durch seine Aue. Das Wasser ist recht klar, Sichtweite ~2-3m, und voller Wasserpflanzen, Laichkräuter, Pfeilkraut, und was sonst noch so normal ist in eutrophen Fließgewässern (Foto). An ruhigen Stellen wachsen See- und Teichrosen, Froschbiss, Wasserlinsen und vieles mehr. Die Ufer bilden streckenweise hohe Schilfbestände (Foto), Weidendickichte, ab und zu auch Steilufer aus feinem Sand. So saubere Flüsse sind selten im Flachland, noch dazu, da das Einzugsgebiet in Russland keine Wildnis, sondern landwirtschaftlich genutzte Fläche ist. Fast jeder, den wir am Fluss treffen, erzählt uns in den nächsten Tagen, der Snow sei bekannt als einer der saubersten Flüsse der Ukraine.

Etliche berichten aber auch, vom einstigen Fischreichtum sei kaum etwas geblieben. Noch vor 10 Jahren waren große Fische häufig, Welse, Hechte, Barsche, Döbel etc. Auch wimmelte es früher von Krebsen, die es heute kaum noch gibt. Tatsächlich sehen wir kaum größere Fische springen, oder Angler am Ufer noch Krebsfänger im Wasser (Foto), die an Sejm und Desna noch häufig waren. Schuld seien kommerzielle Raubfischer, die mit Elektrofischerei ganze Flussabschnitte vollständig abfischen.
Auch die Wasserführung, der Pegel sei im Schnitt 1½-2m gefallen (?), sowie die Wasserqualität sollen stark abgenommen haben. Mitte der 90er Jahre soll im russischen Oberlauf eine Fabrik in Betrieb gegangen sein, welche mit ihren Abwässern den Snow verunreinigt. Um was für eine Fabrik es sich handelt, da gehen die Meinungen auseinander. Die einen tippen auf eine Papierfabrik, andere auf eine Lederfabrik. Naja, hier im ukrainischen Oberlauf spüren wir nichts von einer industriellen Wasserverschmutzung. Erst im Verlaufe unserer Tour nimmt die Transparenz des Wassers deutlich ab.
Ein weiterer Punkt, der auf eine totale Verarmung der Fauna hindeutet, ist die Stille in der Landschaft. Es sind kaum irgendwelche Vögel zu sehen oder zu hören. Während unserer 12 Tage auf dem Fluss sehen wir keine einzige Ente. Erst auf der Desna gibt es wieder einzelne Exemplare. Ein Jäger berichtet uns, dass man vor 20 Jahren nur blind in den Himmel halten musste, und hat mit einem Schuss mehrere Enten heruntergeholt. Heutzutage ist die Landschaft dagegen so leergeschossen, das einfach nichts mehr zu holen ist. Das ist das Ergebnis grenzenloser Freiheit. Einfach unfassbar, wie stark die Natur hier niedergemacht wurde. Leider sind wir 10 bis 20 Jahre zu spät hier.

Genug des Klagens. Hier im ukrainischen Oberlauf macht die Natur einen intakten Eindruck. Allein schon die Unmengen aggressiver Bremsen, Pferdebremsen, Mücken und stechender fliegenähnlicher Insekten (Blindbremsen) zeigen uns, dass es hier noch weitgehend wild zugeht. In der sumpfigen Aue schlängelt sich der Fluss durch Schilfgebiete, oder der Blick öffnet sich auf flache Sümpfe mit Altarmen und vielgestaltiger Vegetation. In der Nähe der Dörfer dominieren saftiggrüne Weiden, die von Rindern und den frei in der Landschaft umherziehenden Herden von Hausgänsen kurzgehalten werden. Wie schön es ist, an einem quasi natürlichen Ufer mit Golfrasen anzulegen! Das muss vor 50 oder 100 Jahren bei uns noch ganz ähnlich gewesen sein. Die Faltbootwanderer haben es während des Faltboot-Booms in den 20er und 30er Jahren in Deutschland sicherlich noch ganz genauso erlebt.
Ab und zu gibt es sandige Badestellen, die heute meist von Rindern freigehalten werden (Foto). Früher waren es die vielen Kinder, aber die sind mit der Landflucht und dem in Osteuropa ganz erheblichen Geburten-Rückgang immer weniger geworden. Nur in den Sommerferien besuchen die wenigen Kinder aus der Stadt noch die Oma auf dem Lande. Man merkt ganz deutlich, dass die Bevölkerung auf dem Lande schrumpft. Die Wirtschaftsaktivität, speziell die Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen, geht sichtbar zurück. Große offene Flächen fangen an zu verbuschen, die Wildnis gewinnt. In den Dörfern stehen immer mehr alte Häuser leer.

Am Abend des ersten Paddeltages finden wir auf einer ausgedehnten Weide auf dem Hochufer eine überdachte Sitzgruppe (Foto), die von der regional aktiven Umweltbewegung «Зелений Човен» ("Grünes Boot") errichtet wurde. Motto der Bewegung: «Мы собираемся не для того, чтоб жаловаться на жизнь и окружающих, а для того, чтоб делать ее лучше...настолько, насколько можем» ("Wir werden uns nicht über das Leben und andere beschweren, aber es besser machen ... so viel wir können", zB beim Müll aus der Landschaft räumen). Gleichartige Rastplätze haben wir im Laufe des Tages bereits mehrere gesehen.
Auffällig ist, dass hier in der Gegend fast durchweg Russisch gesprochen und geschrieben wird. Ansonsten wird in der Ukraine versucht, sehr aggressiv das Ukrainische durchzusetzen, und das Russische aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Hier ist das anders. Bereits an unserem Startort Gorsk ist uns aufgefallen, dass die Bushaltestelle gerade erst frisch mit dem großen neuen Schriftzug 'Горск' versehen wurde. Auf Ukrainisch hätte man Гірськ/Hirs'k schreiben müssen.

Künzi-Holz gibt es genügend, und so kochen wir uns Tee und Brühe. Es ist noch deutlich über 30°C, der Wind weht trotz der offenen Lage nur schwach. Unter dem Schutzdach hängt ein frisches Hornissennest (Foto), und so müssen wir aufpassen, wen wir erschlagen, wenn sich mal wieder eines der vielen Stechtiere auf der Haut niederlässt.

Die Stechtiere werden deutlich zurückhaltender, wenn man frisch gewaschen nach einem Bad aus dem Fluss steigt. Das Wasser hat, wie bereits aus dem letzten Jahr bekannt, so um die 28°C Wassertemperatur. Wir sind hier auf derselben geographischen Breite wie Münster oder der Spreewald. Aber wann findet man bei uns solche Wassertemperaturen? Entsprechend sommerlich ist auch die Witterung während unserer Tour. Auf den Osteuropa-Sommer kann man sich weitgehend verlassen. Die Tageshöchsttemperaturen schwanken so zwischen 27 und 33°C, und morgens kann man bei 13 bis 19°C durchatmen. Hochsommer wie aus dem Bilderbuch. Nur einmal bringt eine Regenfront vom Schwarzen Meer etwas Abkühlung und uns einen Pausentag (17+5mm Niederschlag).

So verbringen wir nun 12 ruhige Tage auf bzw. an dem Fluss. Ab und zu gehe ich in einem nahegelegenen Dorf einkaufen, was immer wieder zu einem Event ausartet. Für mich, ja auch, aber vor allem für die Dorfbewohner. Für sie ist es immer ein Ereignis, wenn sich solch ein Alien aus der Fremde sehen lässt. Kaum verbreitet sich die Kunde von dem Neuankömmling im Dorf, strömen sie auch schon zusammen. Wegen meinen begrenzten Russisch-Kenntnissen bin ich auf Ihre Hilfe angewiesen. Selbst die jugendlichen Mädels, welche in den Städten recht zuverlässig Englisch können, bleiben hier auf dem Dorf stumm, jedenfalls was englisch betrifft. Russisch und vor allem Zeichensprache funktionieren hier in der Gegend aber problemlos (im Unterschied zur West-Ukraine, wo die jungen Leute tatsächlich oft kein Russisch mehr können). Solch ein Laden ist meist klein und wird in Tante Emma Manier geführt. Da steht man dann vorne am Tresen, und muss der einzigen Verkäuferin jeden einzelnen gewünschten Gegenstand irgendwie bezeichnen. Kondensmilch fürs Sportgetränk zum Beispiel: молоко? Reicht nicht. Nein, nicht von der Kuh, Konserve с сахаром. Das Fachwort wäre Сгущённое молоко, kenne ich aber nicht. Der 4x4m große Raum für die Kunden ist mit ~12 Leuten gefüllt. Die vorderen geben der Verkäuferin Tipps, was ich gemeint haben könnte, und so kommen wir eigentlich immer recht zügig ans Ziel. Das wiederholt sich dann für jeden einzelnen Artikel auf meiner langen Liste. Schwierig ist auch immer die Wahl der richtigen Wodka-Sorte. Das überlasse ich dann lieber nicht der Verkäuferin, sondern wende mich ans umstehende kundige Publikum. Die Empfehlungen waren immer gut, wir wurden nie enttäuscht. Der ganze Einkauf zieht sich so über 20 - 30 Minuten hin und ist für alle Anwesenden eine unterhaltsame Show.

Frisches Obst und Gemüse sucht man in den kleinen Dorfläden allerdings vergebens. Für solche Sachen, die die Dorfbewohner alle selbst anbauen, habe ich mehrfach direkt an Bauernhöfen nachgefragt. Oder direkt im Laden findet sich jemand, der sich meiner annimmt, nach Hause führt, und mit den gewünschten Lebensmitteln versorgt. Da gibt es dann Knoblauch, Zwiebeln, Tomaten, Gurken (Foto), Paprika, kleine, wildsortenähnliche Äpfel und Birnen, Kartoffeln, oder auch mal ein Stück selbstgemachten Käse oder Smetana (fette Dickmilch, Schmand).

Durchweg sind die Leute freundlich, offen, interessiert und immer wieder erstaunt, dass wir hier in ihrem Land Urlaub machen. Ganz das Gegenteil von dem, was zB Guido Sandrock hier von seinen Eindrücken während einer Tour auf der Desna beschreibt.

Mehrfach begegnen uns ein Floß mit einem Mann mit Brett als Paddel, der sich den Fluss hinunter treiben lässt (Foto), sowie etliche andere Faltboot-Fahrer. Wie zB der Vater mit seinem Sohn aus Kiew, der dem jungen blassen Mann erstmals die schöne Natur seines Heimatlandes näher bringen will (Foto). Als er erfährt, woher wir kommen, hat er ein weiteres Argument in der Hand, mit dem er seinen unmotivierten Sohn aufmuntern möchte: "Sieh her, Junge, die beiden kommen sogar aus Deutschland, um hier unseren klarsten Fluss der Ukraine kennenzulernen." Er zeigt uns ein paar Fotos von uralten Eichen, einem Naturdenkmal, an dem wir vor einer Stunde vorbei gepaddelt sind. Im übrigen entdecke ich erst jetzt beim Schreiben des Berichtes, dass die gesamte Snow-Aue von der russischen Grenze bis zur ersten Kleinstadt Snowsk ein regionales Naturschutzgebiet 'Snovsk' ist. Auch weiter stromab, bei Нові Млини (Neue Mühle), gibt es noch einmal ein Stück geschützte Aue.

Kurz vor Займище treffen wir auf eine Gruppe von sechs Kiewer Mittelstands-Familien mit ukrainischen Faltbooten, die gerade im Begriff sind, ihre Tour auf dem Snow zu starten (Foto). "Für die Entwicklung der Kinder" machen sie das, erklären Sie uns. Sie wurden von zwei älteren Männern hierher gefahren, mit denen wir uns nach Abfahrt der Gruppe noch eine Weile unterhalten. Dazu laden Sie uns zu Wodka und einem Snack aus Brot, Speck, Gurken und Tomaten ein, natürlich alles домашний, hausgemacht (Foto). Sie erwarten noch weitere Gäste hier draußen an ihrer selbstgezimmerten Sitzgruppe, um morgen die Eröffnung der Jagd zu feiern, so wie jeden ersten Samstag im August. Kennen wir das nicht bereits vom letzten Jahr? Wir verabschieden uns und fahren noch ein paar Kilometer weiter.

Der nächste Morgen ist dann dieser Samstag, die "Eröffnung der Jagd", und so werden wir um 5 Uhr mit dem ersten Schuss geweckt. Den ganzen Tag dann viel Geballere und Tröten-Getute entlang des ganzen Flusses. Überall sind Gruppen von Jägern unterwegs. Nur zu schießen gibt es nichts.

Am diesem Abend zelten wir auf einer Sandbank in einer scharfen Kurve. 2 Männer schnorcheln den Fluss stromauf und jagen erfolgreich mit Harpunen nach Fischen (Foto1, 2). Vollmond.

Den nächsten Morgen genießen wir auf der Sandbank in der Sonne (Foto). Kurz vor Abfahrt springen wir nochmal ins Wasser. Ich trockne gerade noch, nackt wie Gott mich schuf, da kommt ein einsames kleines Faltboot um die Ecke, ein Triton Ileksa. Nach einem kurzen Gruß, woher, wohin, wendet der Paddler und legt an (Foto1, 2, 3). Er hat heute Morgen eine Flasche Frischmilch direkt aus dem Euter vom Bauern mitgebracht, und so kochen wir uns alle drei noch einen Milchkaffee. Михаил Закусилов, 36, baut Holzhäuser und hat außerhalb seiner Aufträge viel Zeit, ausgedehnte Touren mit dem Boot zu machen. Letztes Jahr war er u.a. 2 Wochen auf den Flüssen Vyr, Sejm und Desna unterwegs. Start war in Belopolye (Білопілля), da, wo wir letztes Jahr eigentlich auch starten wollten, und Endstation Kiew, alles zusammen 640km. Sein Traum ist es, einmal in einem Zug die längste paddelbare Strecke in der Ukraine zurückzulegen und dann im Schwarzen Meer anzukommen.

Wir dagegen halten unsere Tagesetappen recht kurz, im Durchschnitt ~13km. Die kürzeste Tagesetappe war gerade mal 4.4km lang, die längste 27km. So kommen wir auf insgesamt 152km auf dem Wasser. 2 von 14 Tagen am Fluss gehen wir gar nicht aufs Wasser. Insgesamt also recht gemütlich.

In Седнів/Sedniw lassen wir das Boot am Ufer liegen und machen einen 4h-Spaziergang durch das Städtchen. Sedniw ist bekannt für seine Sehenswürdigkeiten: den Landsitz der adligen Kosaken-Familie Лизогубы/Lyzohub (Foto), einen Pavillion im Gutspark mit schöner Aussicht auf den Snow, 40m über dem Fluss (Foto), historische Kirchenbauten, und etliche moderne Denkmäler. Heute ist es ein beliebter Treffpunkt und Wirkungsstätte ukrainischer Künstler.
Als wir von unserem Landausflug zurückkommen, liegt da eine Tüte mit 2kg Äpfeln an der Treppe zu unserem Boot. Die Alte, die so freundlich war, ein Auge aufs Boot zu werfen, während wir weg waren, hat sie vom Baum gesammelt. Wir füllen bei ihr noch Wasser ab, bedanken uns und fahren weiter.

Weit kommen wir hier nicht, denn das einzige Hindernis dieser Tour liegt vor uns: das Wehr und Wasserkraftwerk Sedniw (Foto). Eine gute Umtragemöglichkeit war im Luftbild vorab nicht zu erkennen. Aber vor Ort klärt sich das. Man muss links in ein Altgewässer fahren und dort in die Süd-Ecke. Von da geht ein frisch freigeschlagener Pfad um das Wehr herum, nur 70m lang. Am Ende geht es ziemlich steil wieder ins Wasser. Bootswagentauglich ist das Ganze nicht.

Am Ende der Bootstour gelangen wir in bereits vom Vorjahr bekannte Flussabschnitte, in das Mündungsgebiet des Snow in die Desna, und die Desna selber (Foto). Am letzten Abend am Fluss beobachten wir einen Angler, der vom Boot aus in der Desna einen großen Fisch an den Haken bekommt. Während des ~einstündigen Kampfes mit dem Fisch versammeln sich weitere Boote um den Held des Abends, geben Tipps und versuchen "zu helfen". Aber es nutzt alles nichts. Am Ende reißt die Schnur und der Fisch ist wieder frei. Wahrscheinlich war es ein großer Wels.

Einen Tag später endet unsere Tour wieder in Tschernigow. Genau wie damals landen wir am Sportboothafen am Eingang der Stadt an. Heute muss ich das Auto nicht vom 100km entfernten Startpunkt holen, sondern nur mit dem O-Bus zum Bahnhof fahren (2UAH=0.07€). Nach einem ausgedehnten Stadtbummel fahren wir noch bis vor die Tore Kiews und übernachten noch einmal am Ufer der Desna.

Dort geht es seltsam zu. Neben uns siedeln 2 Männer und eine Frau mit Angelausrüstung und den typischen Anglerzelten. Sie lassen sich aber draußen kaum blicken, halten sich auffällig bedeckt. Auf der anderen Seite unseres Lagerplatzes steht wiederum ein alter Mercedes mit Blick aufs Wasser, darin ein Mann, der sich ebenfalls nicht sehen lassen will. Nachts dann wird mir endlich klar, was das alles zu bedeuten hat. Langsam tuckern große Frachtschiffe im Dunkeln den Fluss stromauf. Ich gucke raus auf den Fluss, kann aber nichts genaues erkennen. Wahrscheinlich handelt es sich um Transporte von ukrainischem Kriegsmaterial, Panzer, Haubitzen, schweres Gerät, welches wohl von den Amerikanern "gespendet" wurde. Die Herrschaften hier am Ufer sind demnach russische Spione, die, getarnt als harmlose Angler, in ihren Tarnzelten am Ufer sitzen und mit Spezialoptik versuchen, diese Bewegungen schweren Gerätes zu quantifizieren. Und wir Naivlinge setzen uns ausgerechnet zwischen die beiden.

Die ganze Nacht hören wir immer wieder die vorbeifahrenden Schiffe. Aber anders als erwartet fahren die Schiffe auch im Morgengrauen weiter. Leer stromauf, und mit Bausand brechend voll beladen wieder stromab. Oh, also waren es wohl wieder Fake-News-Phantasien, ach jott, das passiert halt heutzutage immer öfter.

Den Tag verbringen wir in Kiew (Foto), besuchen die Kiewer Höhlenkloster (Foto), und schoppen ein bischen, zB mein neues Paddel-Navi.

Am übernächsten Tag besuchen wir Lemberg mit seinem historischen Zentrum überwiegend aus den goldenen Zeiten der Österreichisch-Ungarischen K.u.K.-Monarchie (Foto). "Mit seiner städtischen Struktur und seiner Architektur ist Lwiw ein hervorragendes Beispiel der Verschmelzung von architektonischen und künstlerischen Traditionen Osteuropas mit denen von Italien und Deutschland", meint die UNESCO in der Welt-Kulturerbe-Begründung dazu.

An der Grenze nach Polen, wir sind diesmal extra über einen anderen Grenzübergang gefahren als im Jahr zuvor, stehen wir wieder bis tief in die Nacht. Diesmal dauert es keine 9h, sondern "nur" 5h! Auch wird diesmal dieses nervige Geschäftsmodell der schmierigen Typen dort ins Leere laufen gelassen. Normalerweise stellen die sich mit ihren Autos mit in die Schlange, nur um vor sich einen Platz zu lassen, den sie dann gegen 50$ oder so an Vordrängler verkaufen können. Kurz vor der Grenze kehren sie wieder um und stellen sich neu an.
Diesmal jedoch kommt ein Grenzer durch und notiert sich die Reihenfolge der wartenden Autos. Vordrängler werden vorne wieder zurückgeschickt. So muss das sein. Eventuell ist das aber auch nur so gemacht worden, weil sich eine deutsche Touristin beschwert hatte, genau zu dem Zeitpunkt, als wir uns in die Schlange einreihten.

Auf der Rückfahrt durch Polen machen wir noch einen Abendspaziergang durch Breslau, fahren anschließend durch bis Berlin und das wars dann. Sonntag früh, nach insgesamt 3850km sind wir wieder zu Hause.

Gruß Michael

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Spartaner Offline




Beiträge: 1.167

16.09.2017 13:39
#2 RE: Snow, Ostukraine im August 2017 Antworten

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Spartaner Offline




Beiträge: 1.167

16.09.2017 13:43
#3 RE: Snow, Ostukraine im August 2017 Antworten

Bilder 3

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Troubadix Offline



Beiträge: 1.359

17.09.2017 22:27
#4 RE: Snow, Ostukraine im August 2017 Antworten

Moin Michael,
tolle Bilder und ein detailliert geschildertes grandioses Abenteuer wie gewohnt.
Danke
Jürgen


Wolfgang Hölbling Offline




Beiträge: 3.677

18.09.2017 08:26
#5 RE: Snow, Ostukraine im August 2017 Antworten

Ein Abenteuer, das nicht erst am Wasser beginnt: faszinierend!

http://www.canoebase.at/
http://www.swiftcanoe.eu/

Wolfgang Hölbling


abumac Offline




Beiträge: 473

19.09.2017 13:47
#6 RE: Snow, Ostukraine im August 2017 Antworten

Sehr interessanter Bericht. Danke.

http://canoa.blog


Donaumike Offline




Beiträge: 1.368

19.09.2017 18:55
#7 RE: Snow, Ostukraine im August 2017 Antworten

100 Punkte!

Danke!

Gruß Mike


 Sprung