Die Obra von Bentschen bis Meseritz, Himmelfahrt 2019
Das Himmelfahrtwochenende stand an. Andrea hatte zu diesen Tagen zwei Termine Pantomimeübungen, also eine gemeinsame Tour war nicht drin, so dass ich zunächst keinen Urlaub beantragt hatte. Am Montag vor Himmelfahrt erfuhr ich, dass noch keiner meiner Kollegen Freitag freinimmt. Das war für mich das Zeichen, doch noch einen Tag Urlaub zu beantragen, und meine einzige Chance in diesem Jahr zu nutzen, nach Ostern noch einmal 4 zusammenhängende Tage aufs Wasser zu kommen - für eine Solotour (neben den 50 Tagen geplante Fernreise 3 Monate später). Nun habe ich überlegt, wohin es denn gehen sollte. Die Oder sollte es nicht wieder gleich werden, da waren wir ja erst zu Ostern. Die Obra ist auch nicht weit weg, ich kenne sie bereits als hübschen kleinen Fluss in recht natürlicher Landschaft. Im Vergleich zur Oder wäre das allerdings ein wahres Abenteuer. Die Obra ist bekannt für ihren Holzreichtum, dh es liegen sehr viele umgestürzte Bäume im Wasser. Zudem ist mir völlig unklar, ob der kleine Fluss zur Zeit überhaupt genügend Wasser führt. Wir haben ja hier im Osten bereits eineinhalb Jahre nahezu Dürre. Die Grundwasserstände sind niedrig wie nie und haben sich auch im Winter 2018/2019 nicht erholt. Dennoch will ich es wagen. Natur, Einsamkeit und Abenteuer, spartanische Minimalernährung, vollkommene Unabhängigkeit.
Ja, so soll es sein!
Nun kommt die Frage, welchen Abschnitt ich ins Auge fassen sollte. Der Unterlauf von Meseritz bis Schwerin a.d.W./Skwierzyna wird wohl zur Zeit gänzlich unfahrbar sein. Hier liegen Dutzende umgestürzte Bäume im Fluss und sperren den Lauf über die gesamte Breite. Einen Eindruck vermittelt der Fahrtbericht einer einzelreisenden Dame: First British Solo Descent of the River Obra. Zitat: “Discovering places untouched by British Tourism is always an adventure ... in my mind it had became a psychological endurance test between me and the river. .... I couldn’t even reach my mobile phone to call for help.” !!! spannend geschrieben, wirklich lesenswert!
Die Wikinger haben den Fluss vor Jahren auch schon befahren und vermessen, hier ein Auszug ihrer Dokumentation der Baumhindernisse:
Der Oberlauf ab Kopan/Kopanica, den wir vor 4 Jahren unter den Kiel nahmen, ist vielleicht schon leergelaufen oder zugewachsen und außerdem nicht besonders gut öffentlich erreichbar.
So fällt meine Wahl auf den Abschnitt Bentschen/Zbąszyń bis Meseritz/Międzyrzecz. Ich fahre mit dem Auto am Mittwoch Abend nach Meseritz, übernachte am Flussufer, und fahre am nächsten Morgen mit verpacktem Faltboot und allem Bagage mit der Bahn nach Bentschen. Die Tour selbst ist nicht allzu lang, nur ~50 Flusskilometer. Auch hier gibt es immer wieder Abschnitte, die wir aus der Vergangenheit mit etlichen ernsten Baumhindernissen kennen. Am Ende der Tour, Sonntag Abend oder Montag Vormittag, lande ich in Meseritz direkt beim Auto an. Perfekt, mein Plan.
Übersichtskarte des geplanten Abschnitts: Eine sehr wald- und gewässerreiche Gegend.
Nun geht es ans Fahrkarte kaufen. Es gibt eine einzige Zugverbindung, bei der ich nicht umsteigen müsste. Dieser Zug fährt bereits früh um 7:37 Uhr in Meseritz ab, ein PKP-Intercity. Der passt perfekt in meinen Plan. Ich finde sogar einen Wagenstandsanzeiger im Netz. Fahrradmitnahme ist verboten und ich erkenne auch keinerlei Großraumwaggon, der Platz für mein umfangreiches Gepäck hätte. Ich habe meine Zweifel, ob ich denn überhaupt in die Abteilwagen eingelassen werde. Aber nach etwas Zuspruch und praktischen Tipps von erfahrenen Bahnfahrern buche ich eine Fahrkarte für mich und 2 mal Extra-Bagage. 13Zł + 2*5.10Zł, Summe 23.20Zł, =5.40€ für 36 Bahn-Kilometer. Es kann losgehen!
Ein schickes Ticket:
Mittwoch Abend, Dienstschluss 19:35 Uhr, ich demmle nach Hause, ziehe mich um, packe die letzten Sachen in den Wagen und starte um ¾9 in Richtung Osten. Der gewöhnliche Feierabendstau oder schlimmer noch der Himmelfahrtswochenendstau raus aus Berlin ist längst vorüber. Tempomat eingelegt, und der Urlaub beginnt. Auch die polnischen Landstraßen 22 und 24 sind bereits verwaist. Nur einmal mache ich einen Fehler und folge meinem Navi auf eine Nebenstraße, die sich sofort als Katastrophe herausstellt, immer wieder rote Baustellenampeln. Also kehre ich um und bleibe auf der schnurgeraden Strecke 20km durch den Königswalder Forst. Nach 160km stehe ich in Meseritz auf dem Parkplatz am Obraufer, direkt vor dem Eingang zum Fußballstadion. Auf einer Bank am Ufer unterhalten sich zwei Männer, jetzt noch, kurz vor Mitternacht. Hier mitten in der Stadt kann ich natürlich kein Zelt aufbauen. Stattdessen klappe ich einfach die Lehne des Autositzes nach hinten und lege mich in den Schlafsack. Diese Nacht soll kalt werden, ich merke das jetzt schon. Aber ich habe vorgesorgt und ein paar zusätzliche Klamotten übergestreift, die morgen früh im Wagen bleiben sollen.
Donnerstag, Himmelfahrtstag Früh um ½7 säuselt mich der Handy-Wecker aus dem Schlaf. So ungeübt, wie ich im Alleinepacken bin, will ich mich nicht unter Zeitdruck setzen. Den Rest von gestern Abend aufgegessen, ein Schluck Wasser dazu, dann geht es ans Packen. Aber irgendwie habe ich heute kein so glückliches Händchen wie bei meiner letzten Solo-Tour. Ich schaffe es nicht, den Ortlieb Extremer XXL auf dem recht rundlichen Ally-Sack festzuschnallen. Der Ortlieb war damals wahrscheinlich nicht so vollgepackt und dadurch etwas flacher. Diesmal sind zB eine Regenjacke, das Pelicase und das große Stativ neu dabei.
Also hucke ich mir den schweren Ortliebsack auf den Rücken, in einer Hand den Tagesrucksack, an dem der leere 6L-Wasserbehälter baumelt, in der anderen das Boot auf dem Bootswagen (29kg). Die 20kg auf dem Rücken ohne Hüftgurt drücken ganz schön, aber bis zum Bahnhof wirds schon gehen. Ja, das ist eine ganze Menge Gepäck, was halt Canadierfahrer so gewöhnt sind, obwohl ich einen Teil bereits auf ultraleicht umgestellt habe. Die Faltkajak- und Packraftpaddler schmunzeln zurecht.
Ultralight:
Ultraheavy (konnte mich nicht entscheiden, am Ende blieben nur die Tevas unbenutzt):
Kurz nach 7 mache ich mich auf den knapp 1km Weg und bin 12min später überpünktlich auf dem Bahnsteig. Der Bahnhof ist fast unverändert aus deutscher Zeit überkommen. Nur die Klinkerfassade ist nach der Wende mal gereinigt worden, wobei aber einige Partien übersehen wurden. Selbst ein paar der Holzschwellen meines Bahnsteiggleises scheinen noch original zu sein. Farbtupfer erhält der Bahnhof durch den roten Klatschmohn, der hier überall im Schotterbett gedeiht. Schön ist, dass man ebenerdig über die Gleise gehen kann, um seinen Bahnsteig zu erreichen.
Kurz nach halb 8 fährt mein Zug ein. Der PKP-Intercity besteht aus einer Rangierlok und 3 Abteilwagen 2. Klasse. Zum Glück ist er nur schwach belegt. Ich steige in den letzten Waggon ganz am Ende ein und stelle das Gepäck gleich dort ab. Als ich das Boot hochhieven will, bietet mir ein junger Mann Hilfe an, Pomoc. Ich dachte erst, er will auch mitfahren, aber er steigt wieder aus. Das letzte Abteil ist unbesetzt und wird jetzt meins. Die Schaffnerin kommt auch gleich vorbei und meckert erst Mal wegen dem Gepäck. Der Ortlieb-Sack verbaut die Tür und muss da weg.
Dann scannt sie meine Fahrkarte vom Handybildschirm und lächelt wieder. Ich verstehe zwar nur Bruchstücke, aber ich glaube sie lobt mich, weil ich korrekt 2x Bagage gebucht habe. Dabei ist sie so eine strenge, resolute, verbindliche, eine der ich ein Lächeln gar nicht zugetraut habe. Sie ist wahrscheinlich nur froh, jetzt nicht noch von einem Ausländer Nachzahlung fordern zu müssen. Sowas geht ja heutzutage kaum noch ohne sinnlose Diskussion oder Schlimmeres über die Bühne, nach dem, was man so liest. In Neu-Bentschen/Zbąszynek wird eine größere Lokomotive ans ehemalige Heck gekoppelt, nun sitze ich vorne. Eine Station weiter erweist sich das als Vorteil, denn der Ausgang ist nun ganz nah. Hier in Bentschen/Zbąszyń muss ich raus. Leider kann man nicht ebenerdig über die Gleise gehen, ich muss das ganze Gepäck in einen dunklen Tunnel runterwuchten und wieder hinauf.
Auch hier in Bentschen versuche ich gar nicht erst, den Ortlieb auf das Boot zu packen. ganz so weit ist es ja nicht bis zum Wasser. Unterwegs halte ich an einem Dino Supermarkt, um Verpflegung und Getränke einzukaufen. Ich habe allerdings bereits so viel Verpflegung einstecken, das ich mich auf eine Packung Spaghetti beschränke. Zu trinken gibt es 1½L Bier und einen ½L Żubrówka.
Herrentagsgedeck: Der Dino führt nur diese eine Sorte Bier in Plastikflaschen, und andere Verpackungen kommen für mich nicht in Frage. Plastikflaschen sind leicht und wiederverschließbar. Eigentlich wollte ich den Wodka auch noch in eine Plastikflasche umfüllen, habe es dann aber gelassen.
Ins Zentrum des Ortes gelange ich heute nicht. Hier steht das Bronze-Denkmal für den einsamen Paddler am Ufer der Obra, ich habe es vor 4 Jahren besucht:
Nach insgesamt 1.7km erreiche ich die Obra, direkt an der alten Eisenbahnbrücke. Heute ist die vielbefahrene Eisenbahnlinie offenbar Teil des 'Nowy Jedwabny Szlak', der 'Neuen Chinesischen Seidenstraße'.
Hier gibt es eine schöne Aufbauwiese, und man gelangt gut ans Wasser. Der Aufbau des Bootes gelingt ganz gut, alles sitzt, wie es soll, was sich vor allem auf die Bodenmatte bezieht, die man genau ausrichten muss.
Das fertige Boot verfrachte ich unter die Brücke ins Wasser und beschwere es mit dem Gepäck. Dann laufe ich noch mal los zu den nächstgelegenen Häusern, um den 6L-Wasserbehälter aufzufüllen. Leider finden sich keine Klingeln an den Einfamilienhäusern. Eine Toreinfahrt steht halb offen, ich schaue hinein, rufe, und zeitgleich zeigt sich ein älterer Mann an einem geschlossenen Fenster. Ich deute auf den Wasserbehälter und er zeigt nach hinten in den Garten, wo ich mir am Gartenwasserhahn was zapfen kann. Besten Dank, das ging fix.
Kurz vor ½11, nun kann es endlich losgehen. Aber was ist das? Nur 100m hinter meiner Einsatzstelle, hinter der ersten Kurve, liegt der erste Baum quer im Wasser. Na das kann ja heiter werden.
Der Baum ist frisch gefallen und lässt mir keine Lücke. Vor ihm sammelt sich der Schaum wohl aus dem Kläranlagenablauf wenige Meter oberhalb. Die Ufer sind wegen dem niedrigen Wasserstand hoch und steil und dicht bewachsen, Umtragen wäre umständlich. Also krame ich die Säge raus und beginne mir einen Weg freizuschneiden. An einer Stelle liegt der Baumstamm recht niedrig, hier müsste ich das beladene Boot rüberwuchten können. Aber da muss ich erst mal hinkommen. Die meiste Zeit säge ich auf dem Baum stehend. Nach 12min bin ich damit fertig und das Boot liegt auf der anderen Seite des Baumstammes. Nun noch ein beherzter spagatähnlicher Schritt ins Boot, und es geht weiter.
Den Rest des Tages muss ich übrigens keine durchgehende Baumsperre mehr überwinden. Aber das weiß ich erst am Abend, die Spannung bleibt.
Stattdessen überwiegen jetzt die schönen Momente.
Wer will, kann entlang der Obra immer wieder auch auf ausgewiesenen Biwak- und privaten Campingplätzen übernachten:
Das Dorf Strese/Strzyżewo:
Freiluft-Klassenraum einer privaten Grundschule, wenn ich das richtig verstanden habe:
Natürlich geht es auf den Tafeln um die Tiere und Pflanzen der Heimat.
Schwäne, abstreichender Graureiher:
Kormorane:
Stuka:
Zeitweise verfolge ich die zwei Schwäne oben, die mehrere hundert Meter mit kläglichen Angstlauten vor mir her schwimmen, weil sie wegen Baumsperren nicht in die Luft starten können. Mein gebannter Blick auf die nahen Schwäne übersieht dabei leider einen Seeadler, der direkt vor mir auf einem niedrigen Baum überm Fluss sitzt. Erst als er 5m vor mir abstreift sehe ich den prächtigen Vogel mit seinem weißen Schwanz. Im Laufe des Tages erkenne ich noch mehrfach Seeadler hoch am Himmel, doch für ein Foto langt es später nur ein einziges mal.
Man fährt hier übrigens bis Tirschtiegel/Trzciel auf der Grenze zwischen den ehemaligen Preußischen Provinzen Mark Brandenburg am Westufer und Posen am Ostufer. 1920 fiel die Provinz Posen infolge des Versailler Vertrags an Polen, während des 2. WK hieß das Land am östlichen Obra-Ufer Reichsgau Wartheland, und heute ist es die Grenze zwischen den polnischen Wojewodschaften Lebus und Großpolen.
Vorbei an den Dörfern Neuland Rajewo/Piaski und Strese/Strzyzewo erreiche ich nach 8km den Naßlettelsee/Jez. Lutol (oder Głębno?). Jeder der Seen auf der Obra-Kanuroute ist mit einem Schild an der Einfahrt gekennzeichnet:
Idyllische Wohnlage:
Am NO-Ufer des Sees ist ein Biwakplatz ausgewiesen:
Gegenüber, auf der 'Koppel', einer Halbinsel, die von Norden in den See hineinragt, mache ich 1¼h Pause, meinen bisher ausstehenden Morgenkaffee zubereiten.
Ein herrlicher Wald bedeckt die Halbinsel:
Früher war das ein herausragend schönes und ruhiges Plätzchen. Seit dem Bau der "Autobahn der Freiheit" jedoch ist es mit der absoluten Ruhe vorbei. Trotzdem sie der Autobahnbrücke in Richtung See eine gläserne Lärmschutzwand spendiert haben, lärmen unablässig die LKW auf der Hauptstrecke zwischen Ost und West. Zumindest bin ich diesmal davon nicht so überrascht wie vor 4 Jahren, und rein visuell ist es immer noch ein sehr schöner Ort. Rheintalbewohner würden ihn sogar still nennen. Zumindest sind die Vogelstimmen immer noch lauter als die Autobahngeräusche.
Kurz bevor ich nach 1¼h wieder ablege, passieren 3 junge polnische Tupperschüssel-Kajakfahrer die Halbinsel. Sie sind wie ich in Bentschen gestartet und werden ihren Paddeltag am Gelände des Bootsclubs in Tirschtiegel beenden.
Autobahn der Freiheit/Autostrada Wolności:
Viel Holz im Wasser:
Ausfahrt auf den Mühlensee/Jez. Młyńskie, am Horizont die Kirchturmspitze von Tirschtiegel:
Quasi am seeseitigen Ortseingang von Tirschtiegel liegt ein Kanuklub(?). Hier liegen die Boote der 3 polnischen Paddler am Ufer:
Ringelnatter:
Am Ende der Tour zähle ich 7 Ringelnattern, die vor mir den Fluss querten. Davon schwamm nur eine von Ost nach West, alle anderen von West nach Ost.
Gegen 4 Uhr passiere ich Tirschtiegel. Die Stadt ist bekannt für ihre Korb- und Schilfprodukte (Möbel, Körbe) und den Spargelanbau. Vom Wasser aus sieht man nicht allzuviel, aber ab und zu gibt es nette Blicke, zB auf den 1903 erbauten Turm der Stadtkirche. Oder auch dieses Haus am Ufer an der Stadtbrücke.
Gleich hinter der Stadtbrücke, an der Bibliothek, soll das ausgebaute Ufer zum Anlegen und campieren einladen. Hier stand früher eine Tafel mit genauen Informationen, wie man sich im folgenden Naturschutzgebiet “Großer See”/Rezerwat przyrody “Jezioro Wielkie” zu verhalten hat. Diese fehlt heute. Vor 10 Jahren galt folgendes: “Auf dem Gebiet des Reservates ist es verboten: - sich aufzuhalten - zu angeln - Boot zu fahren. Dies gilt nicht für Teilnehmer von Kajakwanderungen auf der Obra-Kajakroute, die durch das Reservat "Jezioro Wielkie" abwärts fahren. Gruppen von Kajakwanderern unter Aufsicht von Organisatoren dürfen nur die festgelegte Trasse in der Zeit vom 15. Juni bis 31. August zwischen Sonnenauf- und untergang befahren und nicht am rechten Ufer, an den Inseln und im Schilf aufhalten. Achtung! Der Organisator der Kajakwanderung ist verpflichtet, für das Durchqueren des Reservates jedesmal die Einwilligung des Psczewski-Naturparks zu erlangen. Zuwiderhandelnde gegen diese Anordnung haben eine Strafe lt. Gesetz vom 16. Dezember 1991 über den Schutz der Natur zu erwarten.” Das war ziemlich streng damals. Seit 2013 lautete die Information nur noch, dass Wassertouristen sich entlang einer orangefarbenen Bojenreihe über den See bewegen dürfen. Es gab keinerlei Einschränkung des Befahrungszeitraumes mehr, zumindest wurde sie in der zitierten Quelle nicht kundgetan. Soweit mein Kenntnisstand zu Himmelfahrt.
Kurz vor der ebenfalls neuen Brücke der ehemaligen Ost-West-Hauptverbindungsstraße nördlich von Tirschtiegel liegt links die mächtig stinkende Kläranlage. Der Auslauf ergießt sich gut sichtbar in den Fluss:
Danach passiert man noch rechterhand eine große Fischzucht, und dann taucht man ein in pure Natur, ein Naturparadies, wie man es nur selten findet hier südlich des Thorn-Eberswalder Urstromtals. Es entstand von 18.000 bis 15.000 v. Chr. und ist damit das jüngste und nördlichste der drei großen weichselzeitlichen Urstromtäler. Diese Abbildung zeigt, dass die Obra sogar ihr eigenes kleines Urstromtal hat, eine Verbindung zwischen dem Warschau-Berliner zum Thorn-Eberswalder Urstromtal.
Schon der letzte Kilometer der Obra vor dem Großen See/Jez. Wielkie ist phantastisch. Vor 100 Jahren war das noch Teil des Großen Sees, aber die Verlandung schreitet hier schnell voran. Die Obra schlängelt sich teils durch mannshohes Schilf, teils durch einen Dschungel aus großen Weiden:
Vor Jahren ist uns hier mal ein Hirsch vor dem Boot durch die Obra geschwommen. Damals mussten wir uns hier auch 2x durch umgestürzte Bäume sägen. Aber heute bleibt mir das Glück hold und ich habe weitgehend freie Fahrt.
Video Einfahrt auf den Großen See/Jez. Wielkie:
¾5 erreiche ich den See. Große Teile des Südteils sind von Teichrosen bewachsen. Die mittlere Tiefe des gesamten Sees beträgt nur 2.1m. Von einer orangefarbenen Bojenreihe ist keine Spur mehr zu sehen. Ist die Befahrung des Sees jetzt völlig frei?
Auf dem See empfängt mich ein pralles Vogelleben:
Dutzende Trauerseeschwalben, Flussseeschwalben und Lachmöwen düsen durch den Himmel. Den Nestern komme ich offenbar nicht zu nahe, denn sie lassen sich bei der Futtersuche nicht stören und greifen nicht an (Gegenbeispiel). Hier verweile ich schon mal länger. Es ist faszinierend, diesen perfekten Fliegern zuzuschauen (Fremdaufnahmen).
Trauerseeschwalben:
Es ist extrem schwierig, die schnellen Flieger, die dazu noch ständig ihre Richtung wechseln, formatfüllend auf die Platte zu bekommen. Da bin ich froh, wenn sich mal einer in die Nähe setzt:
Daneben sehe ich viele Graureiher und Schwäne auf dem Wasser, in den Sümpfen im Umland des Sees trompeten die Kraniche, und hoch oben kreist wieder ein Seeadler. Insgesamt wurden im Naturschutzgebiet Großer See bereits 120 Vogelarten nachgewiesen, 32 Arten brüten im Gebiet, darunter etliche gefährdete Arten.
Einen ½km weiter passiere ich die Freiers-Insel mit einer Kormoran-Kolonie. Auch hier reges Treiben bei der Fütterung der Jungen:
Und wieder 1km weiter sammeln sich Flussseeschwalben auf einer Ansammlung von Findlingen mitten im See, die wahrscheinlich nur bei niedrigen Wasserständen herausragen.
Zuhause entpuppen sich die “Findlinge” auf den Fotos als ausgehärtete ganze Zementsäcke, die wahrscheinlich mit voller Naturschutz-Absicht mitten im See platziert wurden.
Ich wollte schon immer mal wissen, ob man am Nordende bis zum Heidemühler See/Jez. Wędromierz durchpaddeln kann. Genügend Zeit habe ich, also lasse ich die Obra links liegen und paddle weiter nach Norden. Ganz am Nordende des Sees, der Teil heißt jetzt Nachtigallen-See und liegt schon wieder außerhalb der Grenzen des Naturschutzgebietes, findet sich eine Lachmöwen-Kolonie.
Hier erwische ich doch noch einen jungen Seeadler:
Mannoman, was für ein Abschnitt! So ein pralles Vogelleben habe ich schon lange nicht mehr erleben dürfen.
Die Mündung ist noch leicht zu finden, aber dann geht es einen schmalen, ordentlich fließenden Bach aufwärts. Die erste Kurve paddle ich noch und stake mit dem Paddel, dann steige ich aus und ziehe das Boot stromauf.
Als es dann vor mir auch noch zugewachsen ist, beende ich den heutigen Paddeltag nach knapp 22km auf dem Wasser.
Ich ziehe das Boot auf eine kleine Lichtung, von der aus ein Tierpfad 30m hoch in den Wald führt. Ein schöner Platz, bewegtes Relief, vielleicht kein Traumcampingplatz so ohne gepflegten Kurzrasen, aber mit schönen Blicken in 3 Richtungen (hinter mir eine Fichtendickung).
Der Boden ist vielfach aufgewühlt, bis 1½m-hohe Büsche und Bäume zeigen arge Verbissspuren. Es ist offenbar eine wildreiche Gegend. Große Eichen stehen in einer Reihe am Talrand, angepflanzt noch in deutscher Zeit. Die tiefstehende Sonne lässt den Wald in warmen Farben erstrahlen. Von Wildnis kann man hier nicht sprechen, aber es ist doch ein schönes Stück Natur, oder besser 'Kulturfolgelandschaft'.
Das Zelt wird auf einer gerade mal 2m langen und ½m breiten halbwegs ebenen Stelle mit trockenem Eichenlaub als weicher Unterlage aufgebaut. Leider musste ich wieder zum schlecht belüfteten Vaude Powerlizard UL 1-2 greifen, da mein luftiges MSR Carbon Reflex 2 schon ewig wegen Gestängeschaden beim MSR-'Kundendienst' liegt.
Nachdem das Lager eingerichtet, der neue Aldi-Luftsessel gefüllt und ein paar Fotos vom Wald im Kasten sind, gehe ich nochmal vor zum Bach, um das Boot abzudecken. Ich krame gerade die Spritzdecke aus der Verpackung, da höre ich ein mächtiges Rauschen und anschließendes Schwingenschlagen ganz nah über mir. Sollte das schon wieder ein Adler sein? Nein, es wird noch besser.
Ein Schwarzstorch versucht, wieder Höhe zu gewinnen. Wahrscheinlich wollte er genau hier auf der kleinen Lichtung landen, dem einzigen Platz am Bach, der aus der Luft erreichbar ist. Er dreht noch eine Runde dicht über den niedrigen Bäumen und wird dabei von der tiefstehenden Abendsonne perfekt angestrahlt. Ein phantastisches Bild mit dem tiefblauem Himmel im Hintergrund. Leider ist die Kamera nicht zur Hand und ich wäre auch nie so schnell gewesen. Aber dieses Bild werde ich auch so nicht so rasch vergessen. Dieses Fremdfoto kommt dem Gesehenen aber schon ziemlich nahe.
Schwarzstörche habe ich schon öfter gesehen, aber immer weit weg, in Bulgarien, im Baltikum, der Ukraine, der Türkei, aber nie bei uns zu Hause. Und nun hier, in der ehemaligen Provinz Brandenburg. So gut und so nah! In Polen leben mit ~1000 ca. doppelt so viele Schwarzstörche wie in Deutschland.
Anstatt eines eigenen Bildes vom Schwarzstorch muss hier das seiner Hinterlassenschaften an seinem Wunschlandeplatz am Bach genügen:
Zufrieden lasse ich den Herrentag im bequemen Luftsessel ausklingen. Es ist windstill und warm, aber zu meinem Erstaunen sind kaum Mücken unterwegs. Dabei müsste es hier angesichts der sumpfigen Bach- und Seeufer von Mücken nur so wimmeln. Vielleicht liegt auch das an der starken Trockenheit. An den Uferbäumen lässt sich erkennen, dass der Wasserstand früher auch mal einen halben Meter höher war.
Ich lasse die Blicke durch den Wald schweifen, ob sich noch ein schöner Gast sehen lässt, und lausche den Geräuschen der Tierwelt. Und die sind nicht ohne! Hinter der Fichtendickung höre ich eine Zeit lang ein mächtiges schnaufen, grummeln und grunzen, aber von so tiefer Stimmlage, wie ich sie nur bei einem sehr großen Eber erwarten würde, eher noch einem Auerochsen. Einen Eber, wie ihn zuvor nur noch das tapfere Schneiderlein zu Gesicht bekam. Das Tier machte ganz klar seinem Ärger über meine Anwesenheit in seinem Revier Luft, hat sich dann aber verzogen. Ich weiß gar nicht, ist das hier eventuell bereits ein Wisent-Revier? Die nächstgelegenen Siedlungsgebiete sind, dachte ich, noch ~50km entfernt? Eine Karte mit GPS-übermittelten aktuellen Standorten der westpommerschen Wisente zeigt neben den relativ standorttreuen Herden einzelne Sichtungen wandernder Wisente ('Wędrówki żubrów'). Demzufolge bewegen sie sich entlang der Netze- und der Wartheniederung in Richtung Oder. Einer hat es sogar schon bis auf das Westufer der Oder geschafft, wurde aber hier in Deutschland umgehend abgeschossen. Hier ein Foto dieses prächtigen Bullen.
Auch später in der Nacht höre ich nahe dem Boot immer wieder wütendes Geplantsche. Macht sich da einer an meinem Boot zu schaffen? Haut seine Eckzähne in die zarte Bootshaut? Oder springen die Tiere rücksichtsvoll über das Boot ins Wasser? Hoffentlich sind sie nicht so dämlich und treten mit ihren scharfen Hufen in die Spritzdecke und brechen sich die Beine. Immerhin liegt der Kahn quer im Weg des Wildwechsels.
Vertrauter, wenn auch immer wieder schön schauerlich, klingen da die Schreie der Eulen in der Nacht. Ich habe mit dem Handy ein paar Tonaufnahmen versucht, leider immer etwas zu spät. Erst waren die Tiere viel näher dran. Hier meine Aufnahme, Waldkauz und Froschkonzert, das mächtige Rauschen kommt nicht vom Wind, ich lag ja im Zelt, sondern ist das Grundrauschen meines Mi-Phones und dazu etwas Magengrummeln.
Man vernimmt hier in diesem Wald so viele interessante Geräusche, dass man eigentlich immer aufnehmen müsste. Ideal wäre ein Gerät wie eine Dashcam, die ständig aufnimmt und, sobald man etwas Interessantes vernommen hat, auf Knopfdruck die letzten Minuten permanent abspeichert. Solange man noch draußen sitzt, geht das noch ganz gut mit der Zuordnung der fremdartigen Geräusche (den Rieseneber habe ich draußen gehört). Aber im Zelt ist das nochmal was anderes. Da fehlt mir dann die schnelle visuelle Kontrolle, besonders bei Geräuschen im Nahbereich.
Gegen halb 11 beende ich den Tag und krieche in den Schlafsack.
Ein Tag voller Naturerlebnis geht zu Ende, Naturerlebnis, wie ich es kaum erwartet habe und in dieser Intensität wohl nur alleine erleben kann. In der Gruppe, schon zu zweit, kommt davon nur noch die Hälfte bei mir an. Der Tag heute war so außergewöhnlich, so erlebnisreich, den musste ich einfach in allen Details für mich festhalten. Die folgenden Tage werden kürzer abgehandelt, versprochen.
Heute morgen bin ich noch unentschlossen, wie ich den Tag gestalten möchte. 'Pünktlich' um 6 Uhr stehe ich auf und fange an, mir eine Erbswurst zu köcheln. Schnell bemerke ich meinen Fehler. Zuerst wäre der Kaffee dran gewesen, denn das Kaffeewasser wäre in der Tasse gelandet, während ich so erstmal die Erbswurst kochen, ziehen und abkühlen lassen muss, bevor ich den (einzigen) Topf wieder sauber bekomme.
Da ist sie wieder, meine fehlende Alleineroutine. Während die Haferflocken in der Erbswurst quellen, baue ich nun bereits das Zelt ab und verpacke das Nachtlager.
Allerdings treibt mich hier nichts, der Platz ist schön und ich habe noch Zeit ohne Ende. So werde ich letztendlich heute gar nicht mehr aufbrechen und den Tag hier verbringen. Den Rest der Strecke bis Meseritz kann man locker in 2 Tagen schaffen, wenn nicht allzuviele Baumsperren im Fluss liegen. Wenn, ja wenn das Wörtchen 'wenn' nicht wäre.
Eine Stunde später komme ich doch noch zu meinem Kaffee, sitze im Sessel, umgeben vom lichtdurchfluteten Wald, dem vielstimmigen Vogelkonzert und der herrlich frischen, feuchtwarmen Luft hier draußen.
Zu schön hier. Vormittags sehe ich noch einmal den Schwarzstorch über den Bäumen segeln. Bei der Fotopirsch in der Umgebung finden sich eindrucksvolle Grabspuren großer Tiere.
Der Bach hat auch schon mal mehr Wasser gesehen:
Hier schreitet der Schwarzstorch auf Futtersuche regelmäßig sein Revier ab.
Ein großer Greif streicht durch den Wald, vielleicht ein Schrei- oder ein Schelladler? Ein einzelnes Reh hat mich noch nicht bemerkt und knabbert zarte Blättchen von den Jungbäumen. Beim übrigen Großwild hat sich längst herumgesprochen, dass sich hier in ihrem Revier ein Eindringling breitgemacht hat.
Das sind übrigens 40 Jahre alte DDR-Gummistiefel, sehr haltbar, etwa die Qualität, mit der afrikanische Armeen jahrelang durch den Kongo marschieren. Nachdem die weichen Weststiefel immer so schnell undicht wurden, habe ich die alten mal wieder angezogen. Nach 2 Tagen Stiefeltragen weiß ich nun auch wieder, warum die nur noch für den kurzen Gang in den Garten taugen. Der rechte Stiefel scheuert außen unterm Knöchel, geht schnell bis aufs Blut. Ok, also auch nicht unbedingt expeditionstauglich.
Pfefferminztee mit Minze vom Bachufer, sehr aromatisch:
Hier habe ich sauberes Bachwasser ohne Ende zur Verfügung und muss nicht an meinen 6L-Wasservorrat. Am Ende wird dieser Vorrat genau bis zum letzten Tag reichen, perfekt. Das Obrawasser sieht hingegen die ganze Zeit dermaßen unappetitlich aus, dass selbst ich es nicht unbedingt fürs Kochen nehmen möchte.
Gegen Mittag zieht es sich zu, und beim ersten schwachen Schauer baue ich das Zelt wieder auf. Das war auch gut so, denn den ganzen Nachmittag kommen nun immer wieder einzelne Schauer herunter. Gegen Abend wird ein richtig kräftiger Regen daraus. Na gut, was solls, dann lege ich mich ins Zelt und diktiere halt schon mal, was bisher passiert ist. Eigentlich ganz praktisch, dass ich heute nicht unterwegs war.
6:30 Uhr, aufstehen. Der Regen hat aufgehört, aber es tropft noch unaufhörlich von den Bäumen. Alles ist triefend nass. Die Luft ist absolut sauber, dazu warm und 100% wasserdampfgesättigt. Die Sonne steigt gerade über die Baumwipfel hervor. Über einer Wiese hinter dem Bach liegt eine Nebelbank.
Natürlich war ich gestern wieder zu faul, noch vor dem Regen genügend Künziholz zu sammeln. Aber ich habe Glück und finde im Fichtendickicht noch trockene tote Äste. Heute klappt das mit der Reihenfolge, zuerst Kaffee und dann die Erbswurst. Aber ganz ohne Malheur geht die Zubereitung auch diesmal nicht über die Runden. Als ich die überkochende Erbswurst eiligst vom Feuer nehmen will, greife ich ohne Handschuhe zu und lasse den heißen Topf fallen. Die Hälfte verschüttet. :cry:
Nach dem Frühstück gehe ich noch einmal auf Fotopirsch. Ein einziges Wildschwein schlief unter einer Fichte und ergreift die Flucht, leider oder Gott sei Dank ist es aber nicht der Tapfere-Schneiderlein-Rieseneber, sondern eine ganz gewöhnliche Wildsau. Sie flüchtet in den Sumpf.
Der Fahrweg auf meine Halbinsel ist extrem wenig befahren, hierher verirrt sich auch der Förster nur selten.
Die Zeltstelle ist zZ der einzig trockene Fleck hier:
Kurz vor 10 ist alles verpackt, das Regenwasser aus dem Boot befördert, es kann losgehen.
Die ersten 50m wird getreidelt, dann bin ich wieder auf dem Nachtigallen-See:
Der immense Nährstoffeintrag über die dreckige Obra führt zu starkem Algenwachstum. Aufrahmende Blaualgen:
Flussseeschwalben:
Der Auslauf der Obra aus dem Nachtigallen-See ist leicht erkennbar. Nach ½km unterquert man die Straßenbrücke bei Rybojadel (Hofmannsthal)/Rybojady für die wenig befahrenen Verbindungsstraße zwischen Tirschtiegel, und Betsche/Pszczew.
300m weiter dann dieses Wehr:
Das alte Wehr ist das einzige überhaupt auf der gesamten Paddelstrecke und noch dazu zZ ohne Funktion, dh es staut nicht. Normalerweise ist es nur bei höheren Wasserständen geöffnet. Vor dem Wehr hat sich einiges Holz und diverses Treibgut angesammelt. Nur links bleibt diesmal eine Lücke, und wenn man sich entsprechend klein macht, passt man auch unter der stählernen Querstrebe durch:
Ab jetzt ist wieder eine lange Zeit easy Paddeln angesagt:
Nur selten liegt auf diesem Abschnitt ein Baum quer im Wasser. Es gibt einfach nicht mehr viele Uferbäume, der Biber hat ganze Arbeit geleistet:
Schellente ♀
Nach 2km biegt die anfangs flussbegleitende Straße nach Norden ab und es wird noch ruhiger. An dieser Stelle gibt es einen auch vom Ufer aus sichtbaren und zugänglichen Waldparkplatz.
Kormorane:
Anfangs ist der Himmel noch ziemlich bewölkt, die Wolken quellen bereits und ich bin mir sicher, heute wieder in Gewitter zu geraten. Aber nach und nach ziehen die Wolken ab:
5km weiter wird die Obra breiter, so um die 40m.
Viel befahrene Biberrutsche:
Um 2 bin ich am Biwakplatz Reinzig/Rańsko. Nebenan wohnt der Förster und hat die Anlage im Blick.
Warum liegt der Müll da neben dem Behälter? Faulheit oder hat es möglicherweise mit Mülltrennung zu tun?
Die neue Straßenbrücke von Politzig/Policko:
Alte Brücke auf die Wiesen hinter Politzig:
Politzig wurde bereits 1278 urkundlich erwähnt. Das Herrenhaus aus dem 19 Jhd. existiert heute nicht mehr. Gleich hinter dem Ort findet sich rechts wieder ein bewirtschafteter Biwakplatz, Stanica kajakowa 'Święty Wojciech' - Kajakstation 'Heiliger Adalbert'.
Hinter Politzig ändert die Obra ihren Charakter. Die schilfbestandenen Flussufer werden weniger, stattdessen mäandriert der Fluss mehr oder weniger tief eingeschnitten in der bewaldeten Moränenlandschaft. Ab hier sind auch wieder stellenweise viele Bäume in den Fluss gefallen.
Es paddelt sich sehr schön, und auch hier gibt es kein einziges wirklich ernsthaftes Baumhindernis. Unter ernsthaft verstehe ich, dass man Überheben, Freischneiden oder gar Umtragen muss. Vor Jahren sah das noch ganz anders aus, da mussten wir auch hier in diesem Teil mehrere zT grausame Umtragen durch moddrigen, mückigen Sumpfwald bewältigen.
An einem ausgesucht ruhigen Ort beende ich kurz vor 5 den heutigen Paddeltag nach 18.7km. Lärm machen hier vor allem die Rehböcke mit ihrem greußlichen Gebell, die quakenden Frösche und die trompetenden Kraniche. Das ist auszuhalten. ;-)
Das Lager schlage ich auf dem ~10m hohen Prallhang auf. Ich dachte erst, dass der Ort von Anglern bereits zugänglich gemacht wurde, werde aber angenehm enttäuscht. Hier war wohl seit Jahren niemand mehr, es wächst alles zu. Allerdings bleibt mir so auch nur ein schmaler Streifen an der Hangkante für Zelt, Gepäck, Sofa, Kocher und Bewegung. Ja, ich möchte das so, auch wenn es nicht ganz so bequem ist wie eine kurzgemähte Zeltplatzwiese, aber es verstärkt mein ‘Wildnis-Feeling’.
Die Erbswurst wird heute mit ordentlich Knofi aufgepeppt:
Schädel einer Sau:
Der Biber lässt ½10 direkt unter mir die Kelle klatschen. Beim zweiten Mal sehe ich ihn dann eher als er mich, und so kann ich das Kelle klatschen auch mal genau beobachten. Zum Fotografieren ist es bereits zu dunkel.
Und zum Abschluss des Tages ein Video, nicht mit dem Biber, aber ein paar allgemeinen Impressionen vom Lagern und Paddeln auf der Obra:
Wer möchte, kann ja mal die erkannten Vögel mit genauer Zeitangabe ihres Gesangs im Video dazuschreiben. Sicher bin ich nur beim Drosselrohrsänger und beim Buchfink, die anderen interessieren mich.
Sonntag, 2. Juni
Die Nacht und der Morgen hier im Wald sind vollkommen trocken, kein Kondenswasser, so dass ich das Zelt später nicht feucht verpacken muss. Es ist warm, die Sonne scheint.
Als ich so ¾8 im Hocken an meinem Kaffeewasser künzele, höre ich hinter mir ein schnelles großes Tier anflitzen. Mein erster Gedankenfunke sah schon ein Wildschwein auf mich zurasen. Ich erhebe mich und sehe noch im Umdrehen ein Reh auf mich zuflitzen. Knapp unter der oberen Böschungskante rast es in Panik an mir vorbei, hält dabei eine Armlänge Abstand, und flitzt weiter hoch in den Wald. Das arme Tier, es ist halt nichts Böses mehr gewöhnt. Wer konnte schon damit rechnen, dass hier ein Mensch lauert. Es waren zwei Rehe. Sie kamen von oberstrom bis zum Zelt, haben daran geschnuppert, die Gefahr erkannt, und dann hat jedes auf seine Art reagiert. Die Reh-Frau ließ sich von ihren Gefühlen treiben und wollte nur noch weg, weg, weg, egal in welche Richtung, wogegen der Reh-Mann einen kühlen Kopf behielt und wenigstens umdrehte, bevor er mit ein paar Sprüngen und dem typischen Gebell in die andere Richtung davonhüpfte. Klar, nicht gerade ritterlich gehandelt von ihm, dass er seine Liebste alleine ließ, aber dieses Verhalten hat wohl überzeugende evolutionäre Vorteile. Zur Beruhigung der mitfühlenden Seelen: natürlich haben sich die beiden in ihrem überschaubaren Stammrevier längst wiedergefunden.
Nach diesem ersten Schreck in der Morgenstunde widme ich mich wieder dem Frühstück. Heute möchte ich die Spaghetti kochen. Das Nudelwasser kocht schon fast, da stelle ich fest, dass ich das Salz vergessen habe. Mist, ich hatte den großen Salzbehälter weg gelassen, aber vergessen, einen kleineren einzupacken. Oh je, Nudeln ohne Salz kochen? Nein, das muss nicht sein. Ich brösele eine Erbswursttablette ins Nudelwasser. Die Erbswurst ist salzhaltig genug, dann die Spaghetti hinterher, das sollte funktionieren. Tut es auch. So habe ich also neben dem ¾L Kaffee nach dem Abgießen des Nudelwassers noch einen ¾L Erbsenbrühe zusätzlich zum Frühstück. Gar nicht schlecht, ich spüre nämlich schon, dass ich insgesamt wohl zu wenig Wasser zu mir nehme. Die Spaghetti werden dann noch mit einer Dose Heringsfilets in Tomatensoße angerührt. Schmeckt alles lecker, jedenfalls nach meinen Maßstäben.
Gut gestärkt baue ich das Lager zusammen und bin kurz vor 11 Uhr auf dem Wasser. Heute liegen nur noch knapp 12km bis zum Ziel in Meseritz vor mir. Die Obra mäandriert hier wieder sehr schön, die Ufer sind überwiegend bewaldet oder zumindest mit Uferbäumen bestanden.
Hier sieht man deutlich, wie tief der Wasserstand zZ ist. Manchmal hege ich aber auch den Verdacht, dass sich dieser Obra-Abschnitt im Verlaufe der letzten 100 Jahre deutlich eingetieft hat.
Nach ¼h passiere ich ein Schild mit einer offiziellen Kilometrierung “63 km”.
Ob damit die Entfernung bis zur Mündung in die Warthe oder ab dem Startpunkt Kopan/Kopanica gemeint ist, lässt sich hier nicht entscheiden. “63” wäre ziemlich genau in der Mitte der Gesamtstrecke.
Wieder gibt es ein paar Baumhindernisse, aber wieder alles gut zu umschiffen.
Kurz vor Solben/Żółwin mündet rechts der Ausfluss des Solbener Sees/Jez. Żółwino. Ein Schild lädt ein zur Befahrung dieses Sees und weist auf einen dortigen Biwakplatz hin. Ich schaue mir die ziemlich zugewachsene Einfahrt an und will mir den See mal anschauen.
Beim jetzigen geringen Wasserstand der Obra müsste ich dazu allerdings eine ½m hohe Schwelle unter der Brücke hochtragen, das erspare ich mir und kehre um.
Kurz darauf die Straßenbrücke von Solben:
Das Fundament der Brücke liegt bereits frei. Folge der Eintiefung des Flussbettes?
Gleich dahinter Neubauten in hübscher Lage:
Mit Hochwasser rechnet hier wohl niemand mehr.
Gleich dahinter befindet sich dieser Rastplatz:
600m weiter bietet ein Kajak-Verleiher Platz und Dienste an:
Und wieder 3km weiter der nächste Biwakplatz:
Der Platz ist groß und oft gut besucht. Für 10Zł kann man sein Zelt aufstellen. Im Hinterland kann man glaube ich sogar Hütten mieten. Die offizielle Kilometrierung steht hier bei “55 km”, also wird runtergezählt bis zur Mündung in die Warthe.
Dann gelange ich doch noch an ein ernstes Baumhindernis:
Die frischgefallene Weide muss an Land umtragen werden. Am linken Ufer sitzen 3 junge Männer beim Sonntagsfrühschoppen und warten auf Paddler für etwas Unterhaltung. Bevor ich aussteige frage ich die drei, welches Ufer sich besser fürs Umtragen eignet. Die Antwort ist eindeutig, hier rechts. Links ist es viel zu schlammig. Da hat es mich also doch noch erwischt, nur 3km vor dem Ziel die erste unvermeidbare Umtrage. Es hilft nüscht, ich muss raus. Zum Glück kann man gleich hinter dem Baum wieder einsetzen.
Das Gepäck deponiere ich auf dem Baumstamm. Das Boot kann man unterstrom wieder am Baum festbinden, bepacken und einsteigen.
20 min dauert die ganze Aktion, dann bin ich wieder auf dem Fluss. 300m weiter warnt ein Schild vor “Betonpfeilern im Wasser”, aber ich sehe davon nichts. Wir sind hier bereits in einem Vorort von Meseritz, Obrawalde/Obrzyce mit der Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde. Sie wurde 1904 als “Provinzial-Irrenanstalt Obrawalde bei Meseritz“ als vierte Irrenanstalt der preußischen Provinz Posen errichtet. Zur Anstalt gehörten 114 Hektar Land, auf dem die Patienten im Rahmen der Beschäftigungstherapie Obst und Gemüse anbauten sowie eine eigene Webereiwerkstatt, die bis in die 1970er Jahre betrieben wurde. Im Herbst 1939 begannen die örtlich machthabenden National-Sozialisten offenbar proaktiv mit der Verlegung der Anstaltsinsassen in das besetzte Polen, wo sie anschließend umgebracht wurden, also noch bevor mit der Aktion T4 zentral für das gesamte Reich angeordnet und gesteuert Behinderte aller Art als “lebensunwertes Leben” vernichtet wurden. In Obrawalde selbst wurden dann zwischen 1942 und 1945 tausende Patienten meist durch die Verabreichung überdosierter Schmerzmittel durch Ärzte und Pfleger vergiftet.
Ausgerechnet hier in dieser düsteren Gegend häufen sich nun die Baumhindernisse. Nicht, dass es besonders viele wären, nein, aber doch Hindernisse, die einen gewissen Widerstand bieten.
Das nächste kann noch recht einfach überhoben werden:
Der querliegende Baumstamm ist immerhin flach überspült. Es reicht, auf dem Baumstamm auszusteigen und das leere Boot drüberzuziehen.
Das letzte Baumhindernis kündigt sich wieder durch eine Meute sensationslüsterner Zuschauer an:
6 laute, freche Dorfmädel okkupieren den Stamm und lauern auf hilfebedürftige Kanuten. Auch hier liegt eine Stelle des Stammes so tief, dass man mit einem Plasteboot und ordentlich Schwung ganz gut rüberkommt. Aber die Stelle ist nicht ganz so tief wie beim letzten Hindernis. Bei mir sehen sie gleich, dass das nicht ganz so einfach wird. Sie feuern mich an, mit mehr Speed aufzufahren. Eine von ihnen hopst ins Wasser und schiebt von hinten mit. Ich muss dennoch aussteigen und gemeinsam zerren wir den beladenen Kahn über den Baumstamm.
Das war nun das letzte Abenteuer auf dieser Tour. Danach kommt nur noch ein tiefliegender Baum, den ich unterfahren kann.
Eine Gruppe polnischer Tagestouristen hat sich 6 Kajaks geliehen und paddelt kurz vor mir.
Um 2 Uhr habe ich mein Ziel erreicht. Hier das Zentrum von Meseritz, das große, 1914 als Kaserne errichtete Gebäude im Hintergrund ist das öffentliche Gymnasium/Gimnazjum Publiczne.
Direkt vor dem in Ufernähe geparkten Auto ziehe ich das Boot auf Land und kann es auf einer gemähten Wiese abbauen.
Eine knappe Stunde später ist alles verstaut und ich tuckere zufrieden wieder nach Hause.
Natürlich wird an der Grenze noch mal günstig nachgetankt (1.259€/L Super 95). Die Messung zeigt mir diesmal einen rekordverdächtigen Verbrauch von 2.91L/100km an. Es gibt eigentlich keinen Grund, an der Genauigkeit der Messung zu zweifeln. Unter 3L/100km gelingt mir aber recht selten. Hilfreich waren vor allem die hohen Temperaturen auf der Rückfahrt, über 32°C Luft und 58°C auf dem Asphalt.
Damit geht diese Sotour zu Ende. Hat mir auch diesmal wieder gefallen. So viel Naturerlebnis war noch nie bei den bisherigen Touren.
Wie immer, wenn ich einen Reisebericht verfasse, informiere ich mich nachträglich noch mal über die verschiedensten Aspekte der Tour. Dabei stoße ich zB auch auf Informationen zur Befahrbarkeit des Naturschutzgebietes “Großer See”/Rezerwat przyrody “Jezioro Wielkie”. Aktuell heißt es auf dieser polnischen Seite zum Landschaftsschutzpark Betsche/Pszczewski Park Krajobrazowy, dass der See nur vom 15. Juli bis Ende August befahren werden darf. Von einer orangenen Bojenkette wie hier ist keine Rede mehr. Vielleicht finden sich auch hier entsprechende Infos. Oder hier? Tja, das habe ich nicht geahnt, die Befahrung ist also zur Zeit verboten. Die entsprechende deutschsprachige Seite schweigt sich darüber aus. Aber ihr wisst es jetzt, es gibt keine Ausreden mehr. Die Obra-Seite des Faltboot-Wikis werde ich auch gleich mal aktualisieren. Die Grenzen aller Schutzgebiete in Polen findet man auf dieser Karte.
Dann gerate ich noch auf eine interessante Seite, die “Eine Flußfahrt auf der Obra im Kreis Meseritz” in deutscher Zeit beschreibt. Es ist zwar nur eine fiktive Flussfahrt, so wie sich der Autor das vorstellt, kein tatsächlicher Bericht. Auf jeden Fall finden sich hier eine Fülle interessanter Details aus deutscher Zeit, illustriert mit historischen Fotos. Der Landschaftscharakter war damals ein gänzlich anderer. Das Wilde, die Natürlichkeit, wegen der ich heute hierher komme, gab es damals nicht. Die Landschaft war viel dichter besiedelt als heute, und ich stelle mir vor, dass fast alle geeigneten Flächen beweidet und/oder gemäht wurden. Insgesamt war die Landschaft offener, viel weniger Baumwuchs vor allem in und nahe der Orte. Der Fluss war aufgeräumt und entsprechend der Vorstellungen von traditionellen Wasserbauingenieuren allerorten reguliert. Heute hat sich das stark verändert, meine Wortschöpfung ‘Kulturfolgelandschaft’ trifft es ganz gut.
Ein grünes lebendiges Abenteuer auf und neben dem Fluss. Vor zwei Tagen ist meine Konstruktion um einen Espresso draußen zu kochen, ebenso zusammengefallen Danke für Deinen ausführlichen Bericht. Viel Spass auf Deiner großen Tour demnächst!
Top! Danke für den schönen Bericht, da steckt eine Menge Arbeit drin. Gestern endlich mal die Zeit gefunden ihn von Anfang bis Ende zu lesen.
Beste Grüße
Björn/Rheinländer
______________________________________________________________________ Da wir im gleichen Boot sitzen, sollten wir froh sein, daß nicht alle auf unserer Seite stehen.(Ferstl Ernst)