Aus meiner Begeisterung für meinen Parallelsport Ultra-Laufen sind mir aus den Corona-Jahren zahlreiche sog. "FKT"-Attempts, "Fastest Known Time"-Versuche für verschiedene Fernwanderwege bekannt. Das wurde damals aufgrund des mehrjährigen Ausfalls der großen Rennen für die Profis hip und stellt quasi die Schnittstelle zwischen Ultraleicht-Fernwandern und Ultramarathon dar.
Nun habe ich mich gefragt, ob sowas jemand schon mal im Canadier für unseren Hausfluss, die Weser, oder andere Flüsse gemacht hat? Bei meinen 24h-Kanu-Rennen landete ich letztes Jahr so bei >140 <160km (WeDaDu, FK Rauxel, Warturm), damit dürften die 366 km bis Bremen in Netto <60h bestimmt zu schaffen sein. Brutto ist dann schon eine spannendere Frage Hat jemand schon mal sowas versucht?
Ich würd`s vermutlich "unsupported" machen und deswegen nachts nicht durchfahren. Freue mich auf eure Ideen und Gedanken dazu!
mir fällt jedenfalls kein anderer Kanadierfahrer ein der solche Wettbewerbe mitmacht und womöglich initiiert! Sollte ich da falsch liegen, dann melde dich einfach. Zum Thema: Ich finde das tatsächlich ein interessante Idee, die GANZE Weser quasi am Stück zu fahren. Interessant auch deshalb, weil es Flussabschnitte gibt die eher ungeeignet für einen C1 oder überhaupt Kanadier sind (im Tidenbereich). Ich würde deshalb am letzten Wehr in Bremen aufhören. Das Stück bis Bremerhaven würde ich nur im seetüchtigen Kayak machen. Soweit meine Gedanken dazu!
P.S.: Die 80 km bis Holzminden habe ich beim Wesermarathon 2023 in 6,5 h netto (Brutto 7 h) gefahren … dann war ich aber auch platt. Und ich konnte nicht mehr so gut sitzen!!
Grüße von der Mittelweser
Volker
Solo Canoe: GRB Newman Classic XL Paddle: BlackBart Bentshaft, Northstar Voodoo Tandem Canoe: Wenonah Itasca
Vielen Dank zunächst für deine Einschätzung, die ich bez. Unterweser ab letztem Wehr definitiv teile. Das ist schon anspruchsvoll genug, wenn man nicht "angeschossen" vom Oberlauf daherkommt. Vielleicht macht`s irgendwann einer bei optimalen Bedingungen bis Bremerhaven, aber ich jedenfalls erst mal nicht
Was ich mir bisher gedacht habe, war die Brutto-Zeit als Gradmesser zu nehmen, denn verteilt auf 30 Tage könnte ich ja sonst problemlos auf dem Papier einen 10km/h-Schnitt auf der ganzen Strecken fahren.
Wenn also brutto gilt, dann wird ähnlich wie bei einem 24h-Rennen die Off-Zeit sofort das bestimmende Thema: Für mich ist es generell kein Hindernisgrund, mit Beleuchtung und Laterne auf dem Kopf zu fahren. Das mache ich sonst auch schon mal. Ich weiß aber auch, dass ich nach 24h wach in etwa so reaktions- und einschätzungsfähig wie mit 1,0 Promill bin, dh. dann gehöre ich definitiv nicht mehr auf den River... Also lieber täglich kurze Biwaks über nacht und nicht zu lang, bevor der Körper komplett in Regeneration schaltet und man am nächsten Tag total angerostet ist, oder?
Gastronomisch wird das dank Astronautennahrung auch eher zum abgewöhnen, aber ja. Frag mich gerade nur wie ich das mit dem Trinken mache. Wo ich gerade so rausschaue, müsste ich da schon 1,5 Liter pro Fahr-Stunde rechnen: in Ortlieb-Säcken technisch machbar bei einmal Nachtanken am Tag, aber echt viel Gewicht
Falls ich das überhaupt schaffe, wäre das ja gute Vorarbeit für zukünftige Challenges. Würde mich jedenfalls ehrlich über jeden freuen, der nach mir noch bessere Benchmarks setzt
Unter 48 Stunden Netto und 4 Tagen brutto ist möglich. Ich bin gefahren
Di – 20.06.23 Start um 05:38 Uhr, Etappe 14h 51min, 136.6 GPS-km Mi – 21.06.23 Etappe 14h 11 min, 110.0 GPS-km Do – 22.06.23 Etappe 08h 10 min, 53.8 GPS-km, dann wegen Unwetter in Hoya untergekrabbelt Fr – 23.06.23 Ankunft 17:22 Uhr, Etappe 09h 35min, 61.7 GPS-km bis zum BKW-Vereinsheim
Das sind in Summe
brutto 83h 44 min
und
netto 46 h 47 min.
In der Netto-Zeit sind die Pausen unterwegs noch mit drin, aber die sind ja taktische Erwägung und dürfen daher nicht abgezogen werden. Ansonsten würde ich sogar sagen, dass eine noch kürzere Brutto-Zeit möglich ist, wenngleich ich über die Unwetter-Zwangspause in Hoya natürlich froh war, um die Batterien wieder voll zu bekommen. Am nächsten Tag beim frühestmöglichen Start in den Restausläufern des Sturms war das auch gut so, denn es ging größtenteils mit Gegenwind und Regen nach Bremen rein. Teilweise ganz schönes Gehacke. Hier die Tracks meiner Uhr:
Die Ausrüstung:
Wenonah Voyager Kevlar UL Paddel Wenonah Performance Bentshaft 52“ (meiner Meinung nach umettikettiertes ZRE Medium) Reservepaddel Wenonah Performance 54“ (m.M.n. umettiketiertes Blackbart) Bootswagen Prijon V-Shape S
Kocher + Topfset Soto Ultraleicht mit 230g-Kartusche
Lampen Black Diamond, Petzl, Navilight Solargenerator Big Blue 28W mit Powerpack TNTOR 37 Wh 2 Satz Wechselklamotten, Under Armour und Dynafit sowie natürlich Crocs (gibt es Paddler, die keine haben?) Hardshell Direct Alpine GPS-Uhr COROS Vertix 2 Iphone 13 pro 2 Ortlieb Wassersäcke und 3 Salomon 500ml-Quickflasks. Duffle für den ganzen Kram Ortlieb 110L und nicht zu vergessen, wie immer und unersetzbar, die Jübberman-Karten.
Bei der Verpflegung habe ich vor allem auf die bewährten Getränke und Gels aus dem Ultra-Laufsportbereich zurückgegriffen, also ausschließlich Astronautennahrung meines Vertrauens, bis auf Abends, da gab es Nudelsuppe mit einem 50g-Riegel selbstgemachtem Pemmikan, 200g Nüsse und eine kleine Salami. Ich muss dazu sagen, dass ich mich bereits vor einem Jahr erfolgreich auf Keto-Ernährung umgestellt hatte, daher brauche ich unterwegs im aeroben Bereich nur 100 kcal/h an Kohlehydraten und Wasser, um den Fettstoffwechsel am laufen zu halten. Meine eigentliche Hauptenergiequelle tagsüber war also das gute, eigene Körperfett, was man auf der Körperfettwage auch gut vorher/hinterher messen konnte :-) Kein Genuss, hat aber sehr gut funktioniert. Auch der Plan, in Kauf zu nehmen, jeden Tag 15-20 kg Wasser mitzuschleppen, dafür aber nicht auf feste Stopps angewiesen zu sein, hat meiner Meinung nach gut geklappt. So konnte ich immer dann Pause machen, wenn es gerade taktisch passte, meine Quickflasks nachfüllen und alle 30 min eine leermachen. Trotz der Mörderhitze bin ich nicht dehydriert, was sonst meine größte Sorge gewesen wäre. Die teilweise beliebten CamelBak-Systeme benutze ich schon lange nicht mehr, da ich erstens bei der Hitze keine Weste trage und zweitens m.M.n. Nicht genug durchgeht. Man hat das Gefühl, sich totzunuckeln, ist genervt und trinkt daher am Ende zu wenig.
Ja, und wie lief`s sonst so? Zunächst einmal seht es mir nach, wenn es aufgrund des Charakters der Tour an dieser Stelle keine ausführlichen Beschreibungen der Landschaft und des Flusses gibt. Davon gibt es an anderer Stelle aber ohnehin schon erschöpfend viel. Außerdem habe ich nicht den Eindruck, dort noch etwas nachtragen oder korrigieren zu müssen. Es gibt ohnehin Leute, die das besser können als ich. Also:
Etappe 1 – HaMü bis Hameln
Angereise war am Vortag. Meine liebe Familie hatte mich am Montagnachmittag durch eine einigermaßen bescheidene Verkehrslage mit Engelsgeduld bis zum Campingplatz Tanzwerder gebracht, damit ich dort übernachten und in aller Frühe starten konnte. Da ich noch vor den Ferien und unter der Woche unterwegs war, versprach ich mir, keine Platzprobleme zu bekommen. Das hat sich auch die ganze Tour über bewahrheitet. Ein erster Blick auf den Fluss am Vortag zeigte außerdem erfreulich viel Wasser. So klingelte der Wecker dann um 04:00 Uhr und ich bemühte mich, möglichst leise alles abzubauen, einzupacken und schnell noch einen doppelten Espresso (löslich :-) ) zu schlürfen, bevor ich dann an der Einsetzstelle unterhalb vom Wehr bin. Und so ging es dann bei bedecktem Himmel und leichtem Nieselregen aber angenehmer Wärme los! Wie immer bin ich die ersten Kilometer etwas angespannt, bis sich dann zeigt, ob der Pace und alles Weitere sich wie erwartet einstellen, oder ob man irgendwo nachjustieren muss. Strömung, Trim und alles weitere waren aber super, so dass die Anspannung schnell verflog. Den Tag habe ich dann rein nach den Ernährungsstopps aufgeteilt: alle 30 min 500ml trinken, erste Umfüll/Pinkel/Bewegungspause nach Halbmarathon-Distanz von 21km, mit Timer von 10 min. Pace gedrosselt auf 75% um Körner für die Folgetage überzulassen, Puls streng aerob. Große Pause von 15min dann nach Marathon-Distanz von 42km und immer so weiter, vorbei am Weserbergland bis ganz nach Hameln.
Später lockerte die Bewölkung auf, ich habe aber auf einen weiteren Stopp zum eincremen verzichtet. LSF50 gab`s dann erst in der nächsten Pause, was gerade noch so gut ging. Am Nachmittag war`s spätestens brennend heiß und unangenehm, dass es mir nur so herunter und in die Augen lief. Als ich dann in Hameln ankam, war ich auch mental „damit durch“ und bin gleich mal am Kanuverein vorbei und das Wehr runter, so dass ich nochmal hochschleppen musste, als ich meinen Fehler spät bemerkte. Das Camp korrekt aufzubauen, hat mir die letzten Körner abverlangt, so als ob man das im Rausch versucht und sich sehr zusammenreißen muss. Nach Dusche und Essen war das aber schnell wieder eingerenkt, und der Schlaf war äußerst tief und erholsam.
Etappe 2 – Hameln bis Stolzenau
Am nächsten frühen Morgen nach dem Wecker um 04:00 Uhr war mein erster Gedanke, wie der Körper die Belastung weggesteckt haben würde. Mein Rücken ist nicht mehr der Beste und meist passiert im warmen Zustand ja nichts, wenn der Körper für Belastung bereit ist und sie erwartet – um so spannender, wie die Lange ist, wenn der Körper zwischendurch heruntergefahren hat. Trotz einiger Camping-bedingter Steifigkeit ging´s aber erstaunlich gut, und die Hauptbaustellen Schulter/Brustsehnen, Lendenwirbelsäule und Handflächen waren noch in guter Verfassung. Es zeichneten sich vor allem glücklicherweise keine Scheuerstellen oder Blasen ab, welche die heutige Etappe behindern könnten. Auf Sonnenschutz würde ich jedoch deutlich mehr achten, und das „Scheich-Tuch“ an meine OR-Mütze anklemmen. Bereits morgens keine Wolke mehr am Himmel, jedoch die ersten Anzeichen einer Unwetterwarnung auf meiner Wetter-App, die auch die Runde unter den anwesenden Radwanderern machte. Ich rechnete mir zu meinen Gunsten aus, dass ich mich nach dem West-Schlenker der Weser in entgegengesetzer Richtung und Abstand zwischen mich und das Tief bringen würde. Nichts desto trotz ein Auge auf`s Wetter behalten und vor allem die goldene Regel beachten: mach Meilen, so lange du kannst! Taktisch keine ganz so einfache Frage, da die Infrastruktur nach Minden weniger wird und die Sprünge größer werden müssen. Nachtfahrt sollte dabei nicht das Problem sein, das war ich gewohnt und dafür auch ausgerüstet. Am Ende eines langen Tages muss man sich jedoch schon sicher sein, ob man sich noch 20km mehr zutrauen kann, da die Urteilsfähigkeit nach 12 Stunden in sengender Hitze irgendwann (siehe Vortag) auch abnimmt, während der Binnenschiffverkehr hingegen ab Minden stark zunimmt. Also sagte ich mir, „erst mal nach Minden fahren und da mal schauen, wie spät es ist“. Dann könnte ich noch mindestens bis Petershagen, oder höchstens bis Stolzenau, weiter jedoch nicht. Natürlich hätte ich notfalls immer biwakieren können, jedoch muss man gut abwägen, ob das Weniger an Infrastruktur und Erholung gegen die bessere Etappenlänge lohnt oder nicht am nächsten Tag rächt. Dies sollte sich später noch unerwartet bewahrheiten... So nahm sich der nächste Tag dann wieder wie bekannt aus, mit der Aufteilung in 21/42 km-Pausen und der Landschaft eben so, wie sie an anderer Stelle schon ausreichend beschrieben ist.
Anders wurde jedoch nun, dass im Verlaufe der Strecke nun Wehre mit Rückstau, d.h. Ausbleibende Strömung, dazukamen. Ganz allgemein stört mich das von den Hausgewässern Unterweser und Maschinenfleet wenig, im Gegenteil, im tiefen Wasser bergab fahren ist für mich eigentlich ein exotischer Luxus. Einkalkuliert hatte ausbleibende Strömung ohnehin. Wie das aber mit Überfluss so ist, man gewöhnt sich allzu schnell daran und bleibt er dann wieder aus, ist das Geschrei groß! So hatte ich mental echt zu kämpfen, als der Pace vor den Wehren Petershagen und Schlüsselburg in die Knie ging. Die Streckenkundingen werden bereits herausgelesen haben, dass ich mich unterdessen für Stolzenau entschieden hatte, da die Kilometerleistung in Minden noch gut war und die Schmerzen sich in Grenzen hielten. Außerdem fand ich es gar nicht so schlecht, im abkühlenden Abendklima ein paar Kilometer mehr als tagsüber zu machen. Nach Schlüsselburg war die Sonne gerade untergegangen, so dass ich das Navilight aufziehen musste. Schweigendes Wundern der zahlreichen Angler auf den Buhnen über meinen Anblick... nach einer schönen Strecke in der abendlichen Dämmerung, jedoch ziemlich am Ende kam ich dann in Stolzenau an und hatte den Kanuverein (als DKV-Station eingetragen), angepeilt. Dort endlich angekommen fand ich eine illustre Gesellschaft älterer Gentlemen auf der Terrasse des Bootshauses vor, die bereits ziemlich gute Laune hatten. Die wussten mit mir dann auch wenig anzufangen, bis sie ihren „Boss“ gefunden hatten, der im Inneren des Bootshauses unter Geklöter Bierkisten stapelte. Als ich mein Begehr vortrug, entgegnete mir der Boss mit trauriger Mine, mir zwar eine Übernachtung (der Platz war leer), jedoch weder fließend Wasser noch Sanitär noch irgend eine Infrastruktur anbieten zu können, denn: „alles kaputt“. Immerhin sollte mich die Übernachtung nichts kosten. Ich hatte ausreichend Trinkwasserreserven dabei und keinen Bock auf Bewegung in irgend einer Form mehr, also entschied ich mich für`s bleiben und konnte während meiner spätabendlichen Routine den lautstarken Gesprächen der Gesellschaft über Kur, Krankheit und Ärzte lauschen, bis diese irgendwann mit Rollator und Pedelec in der Dunkelheit verschwanden. Also keine Dusche und doch richtiges Biwak... naja, nicht so schlimm, dachte ich mir. Das war jedoch ein Fehler, wie ich im Laufe der Nacht bemerken sollte: zunächst hielten mich die Mücken und Bremsen trotz Autan beim Essen in schwedischen Dimensionen auf Trab, so dass ich schlingen und schnell Zelt musste. Lust auf eine Katzenwäsche in der Weser hatte ich nach ca. 20 Stichen nicht mehr – nächster Fehler! Mit meinen zahlreichen Schichten von Autan und Sonnencreme, durchsetzt mit stinkendem Schweiß und Salz, hatte ich im Laufe der Nacht immer das Gefühl, andauernd an meiner LuMa festzukleben und wurde ständig wach. An richtigen Schlaf war nicht zu denken, so dass ich pünktlich, jedoch gerädert am kommenden Morgen wach wurde. Etappe 3 – Stolzenau bis Hoya
Dass die Batterien nicht wieder ganz voll waren, wusste ich eigentlich am nächsten Morgen. Da es jedoch auch nichts nützt, tat ich mein bestes, mittels kurzem Bad in der Weser und dreifachem Espresso dagegen zu arbeiten. Da ich eigentlich ganz gerne biwakiere, genoss ich die frühmorgendliche Stimmung einen kurzen Moment. So langsam zeigten sich aber auch körperliche Abnutzungserscheinungen, weiterhin löste sich die Unwetterlage nicht auf, im Gegenteil. So fasste ich den Plan, mich erst mal bis Nienburg durchzuarbeiten, dort mein Trinkwasser nachzufüllen und wetterabhängig die Etappe zu beschneiden. Das Wetter war morgens bereits drückend heiß und was soll ich sagen, nun rächte sich die fehlende Erholung. Bereits bis Nienburg musste ich leiden und nach einem Halbmarathon, wohlgemerkt an den Vortagen eine Unterdistanz für die kleine Pause, war die Moral im Keller. "Jeder hat einen Plan - bis er was auf die Fresse bekommt", sagte Mike Tyson mal. Das ist in solchen Fällen keine körperliche Sache, denn das Unterbewusstsein startet als Selbstschutz die Rebellion und suggeriert Schmerzen, Krämpfe, Bandscheibenvorfälle usw. am laufenden Band, um den Verstand zum Aufgeben zu bewegen. Etwas schizophren ist das schon, allerdings kannte ich das bereits. Dieser Rebellion gegen den eigenen Willen darf man nicht nachgeben, denn anders als bei echten Schmerzen werden diese Schmerzen nach Pausen immer häufiger und schlimmer, bis das Unterbewusstsein seinen Job ganz zu Ende gemacht und den Selbstschutz durchgesetzt hat. Da hilft nur eisern im Pausenrhythmus zu bleiben, Atemübungen machen und bloß nicht nachgeben. Aber schön ist anders! Ich entwickelte eine so starke Aversion gegen die dort zahlreichen Kieswerke, dass ich sie am Ende am liebsten angeschrien hätte, Wut gegen die weniger werdende Strömung, Hass auf die gewittrige Schwüle sowie auf Gott und die Welt. Schweiß und Sonnencreme brannten in den Augen, die Sonnenbrille musste nach jeder Stunde immer aufwändiger gereinigt werden und die Birne pochte unter dem Sonnenschutz. Die immer monotoner werdende Landschaft tat ihr übriges, und ich taumelte in der mentalen Abwärtsspirale. Aus Erfahrung blieb mir nur eine Hoffnung: mentale Krisen sind unvermeidlich. Jeder bekommt sie früher oder später auf Ultralangstrecke und so lange es nichts körperliches ist, geht es irgendwann vorbei. „So lange es nichts körperliches ist, geht es vorbei“ wurde dann auch mein Mantra, während ich immer mal wieder nervös unter den autosuggestiven Phantomschmerzen nach Anzeichen für Sonnenstich oder Dehydration suchte. Minuten zogen sich zu Stunden, Kilometer dehnten sich zu Lichtjahren aus und ich hatte zwischenzeitlich das Gefühl, durch zähen Honig unter bleiernem Himmel zu fahren oder in einer Endlos-Simulation aus menschenleeren, gelben Bermen und Kurven fest zu stecken.
Schon erstaunlich, was für ein relatives Konstrukt Zeit auch ist; subjektiv dauerten die 10km hinter Nienburg eine psychedelische Ewigkeit. In Drakenburg am Wehr war ich bereits mehrere Jahre mit allen Höhen und Tiefen gealtert. Aber was soll ich sagen, meine Erfahrung täuschte mich nicht und ab km 40 wurde es zwar langsam, aber sicher wieder besser. Als ich mich dann an einigen ätzenden Wasserbaustellen vorbei Hoya näherte, ging es mir bereits wieder gut. Die Wetterlage war jedoch insofern eindeutig, dass es keinen Vorteil bringen würde, noch bis Dörverden zu fahren. Ebenso gut konnte ich es hier gut sein lassen, und dafür am kommenden Tag früher starten. Bezüglich der Ankunftszeit in Bremen würde es sich nichts nehmen. Saved by the bell, sagt man im Boxen. Über den WSV Hoya kann ich auch nur gutes sagen. Der Platz ist top, die Leute superfreundlich und die Infrastruktur 1A. Von sich aus kamen mehrere Vereinsmitglieder an mein Zelt und boten mir aufgrund des nähernden Unwetters das „Kanu-Hotel“ an, was ich nach Dusche, Essen, einem Nickerchen im Zelt und einem alarmierenden Wetterbericht dann beim zweiten Mal auch annahm. Himmlisch!
Etappe 4 – Hoya bis Bremen
Am Ende kam es wie immer mal wieder nur halb so schlimm, jedenfalls dort. Ich frage mich immer häufiger, ob die Unwetterhysterie wie so vieles andere unterdessen auch ein internetbefeuertes Medienphänomen ist. Wie auch immer; ich war froh das Zelt nicht nass einpacken zu müssen. Sobald der Wind bei ca. 20km/h und 40 in Böen war, hieß es fahren. So ging es bei Schietwetter die letzte Strecke gen Heimat.
Die Akkus waren wieder voll und die Verschlechterung des Wetters gefiel mir als Abwechslung. Leider war es schwierig, je nach Kursrichtung und Gegenwind in den Flow zu kommen, da teilweise ein ganz schönes Gehacke notwendig war. So stand Tag vier im Gegensatz zum Vortag im Zeichen der körperlichen Herausforderung, nicht der mentalen. Bereits morgens dauerte es eine ganze Weile, bis die Hände auf normales Format abgeschwollen waren und ich war sehr froh, meiner LWS, dem Gluteus und Piriformis vor der Abfahrt etwas Mobilisierung anbieten zu können. Trotzdem kann ich nicht anders als sagen, dass die letzte Strecke echt weh getan hat. Schultersehnen gereizt, Rücken zu, Arme übersäuert, Hände kaputt. Und es blieb nichts als ballern, ballern, ballern, nach der Kurve immer gegen Wind und Welle gegen anballern, flow- und stilfrei... eins, zwo, drei, vier, HUTT, fünf, sechs, sieben, platsch, Welle gefangen, wieder neu ansetzen... nicht ins Armpaddeln verfallen, Becken aufrichten, keine Pressatmung, HUTT... Irgendwann dann endlich Achim – die Landmarken wurden bekannter und der Regen weniger. Dann die letzte Pause: einmal tatsächlich noch eincremen, denn die Sonne kam noch einmal raus. Ich weiß noch, wie ich versucht habe, mir zu erzählen, dass es nun nicht mehr weit sei. Mit Blick auf die Windräder und die zu fahrenden Kurse glaubte ich mir nicht; zu Recht. Linkes Handgelenk kurz vorm Aussteigen, Schultersehnenansatz am Glühen, Rücken und Beinrückseite am krampfen... Immerhin bekam ich keine mentale Krise, sondern nur körperliche Schmerzen, was deutlich besser zu managen ist. So konnte ich schon mal den ein oder anderen Gedanken an spinnerte Fantasien von Festmählern und Empfangskommittees verschwenden. Als nach einer echten Tour de Force dann endlich der Hemelinger Hafen mit dem Kraftwerk in Sicht kam, war ich jedoch bereits über den Punkt und stellte nur noch verwundert fest, was für eine hässliche Landmarke das eigentlich ist. Während der Portage entlang der Schleuse musste ich dann 4 mal wegen Krämpfen im Rücken absetzen. Aber was soll ich sagen: als sich auf der anderen Seite ein Binnenschiff aus dem Weg schob, zeigte sich tatsächlich … ein Empfangskommittee! In einem wilden Strudel aus endloser Erleichterung, totaler Erschöpfung und Wiedersehensfreude kumulierten alle Krisen und Triumphe in diesem einen Punkt. Meine Stimme überschlug sich, ich musste die Tränen zurückhalten. Ah... Ahoi, AHOI, AHOI! Kurze Zeit später dann Ankunft am Vereinsheim. Die Art des Aussteigens spricht für sich.
Epilog
Den Abend habe ich noch alleine eine 40cm-Pizza mit extra Käse gegessen (jepp, ist ausdrücklich NICHT low carb) und drei Liter alkoholfreies Bier getrunken. Am nächsten Morgen bin ich außer Muskelkater ohne nennenswerte Schäden aufgestanden. Mir geht es gut. Es ist Samstag, und Samstag ist Putztag. Das Leben wartet nicht... die Mädels sind beim Sport, und ich wische und sauge, putze und entstaube. Beim Schrubben der Klos brennen mir Hände und über die Badewanne zu bücken ist nicht einfach, aber es geht. Und war es das nun wert? Warum das alles? Ist es nicht völlig blöde, gerade an den netten Orten des Oberlaufs sinnfrei und blind vorbeizurauschen und dann noch damit anzugeben? Meine Antwort ist sinngemäß in etwa dieselbe, die der große Scott Jurek im Nachwort seines Buches „North“ über seine 40 Tage auf dem Apalachen-Trail gegeben hat. In der seltsamen Form von Zen-Meditation namens Ultralangstrecke machen es sich manche Leute einfach und manche schwer. Macht man es sich einfach, ist es einfach. Macht man es sich schwer, ist es schwer. Man darf nur zwei Fehler nicht machen: erstens, denken, dass es dabei richtig oder falsch gibt und zweitens, meinen dass man es sich aussuchen kann. Es findet dich, und du kannst es nur annehmen.
Wirklich gute Leistung! Zeigt auch einmal mehr, was wirklich vom Schnitt her möglich ist. 7.7 km/h... am Anfang noch mit minimaler Strömung.
Das ist auch meine Erfahrung mit den schnelleren Canadiern.
Für alle diejenigen, die immer glauben mit einem schnellen Canadier bei den Seekajaks mitfahren zu können, ist das wieder einmal der Beweis, dass man pro Stunde mindestens ca. 2 km/h langsamer ist. In windigen Bedingungen noch mehr.
Re. Seekayaks und Pace - ist wie MTB mit Rennrad vergleichen, macht meiner Meinung nach nicht wirklich Sinn und sagt zudem über die Sportler wenig aus. Man würde ja auch nicht Nino Schurter mit Tadej Pogačar vergleichen um zu überlegen, mit welchem Rad man selbst - theoretisch - schneller fahren würde. Deswegen ist jeder herzlich eingeladen, den Praxisbeweis anzutreten und den Benchmark zu verbessern Boot wäre mir egal, hauptsache komplett Selbstversorger wie beschrieben.
Re. organisieren - wäre schon interessant, ähnlich wie dem Mageburg-Meissener Mammut Marathon einen Wettbewerb daraus zu machen. Daran müsste ich ein wenig knobeln. Die Frage wäre tatsächlich, wer sonst überhaupt noch Interesse an solch einem Abenteuer hat?!